Darf man Abtrünnige bestrafen?
Analyse. Wie wollen die Neos und die ÖVP bei allfälligen Koalitionsverhandlungen zusammenkommen? Inhaltlich würde es relativ problemlos gehen, doch atmosphärisch würde es schwierig.
Die ÖVP will, dass Medizinabsolventen eine Zeitlang im Inland arbeiten. Sonst sollen sie einen Teil der Studienkosten zurückzahlen. Aber ist das rechtlich möglich?
Es war die Hoffnung, die viele Bürgerliche in die Neos setzten: Dass sich neben der konservativen, christlich-sozialen ÖVP eine liberale Partei etabliert. Nun gibt es – überspitzt formuliert – neben der ÖVP eine weitere christlich-soziale Partei. Die Neos. Personifiziert etwa in Helmut Brandstätter, der Nummer zwei der Neos-Liste. Neos-Generalsekretär Nikola Donig, ideologisch auch nicht weit davon entfernt und ein ehemaliger ÖVP-Mann, lud schon im Vorjahr die von der Volkspartei enttäuschten Christlich-Sozialen ein, ein Stück des Weges mit den Neos zu gehen.
Und die enttäuschten Konservativen, die eine Anti-Kurz-Initiative derzeit in YouTube-Spots mit Zwetschkenkuchen und Porzellangeschirr umwirbt, kehren mit ziemlicher Sicherheit auch bei den Neos ein. Auch wenn die Initiatoren aus dem Van-der-Bellen-Eck sie wohl lieber bei den Grünen sähen. Doch was die Neos dazugewinnen – derzeit liegen sie bei acht bis neun Prozent – kommt laut Demoskopen von der ÖVP. Die ÖVP wiederum gewinnt von der FPÖ. Die ÖVP und die Neos – zwei Äste vom selben Baum? Gewissermaßen schon. Inhaltlich würde man bei etwaigen Koalitionsverhandlungen daher schon zurande kommen. Doch wie es bei nahen Verwandten oft so ist – atmosphärisch könnte es schwierig werden.
Schön zu beobachten war das beim TV-Duell auf Puls4 am Montagabend zwischen ÖVP-Chef Sebastian Kurz und Neos-Chefin Beate Meinl-Reisinger, auch sie war einmal bei der ÖVP, tätig bei der als christlich-sozial geltenden Staatssekretärin Christine Marek.
Die mit freundlicher Miene vorgetragene Abneigung, die Kurz und Meinl-Reisinger offensichtlich verbindet, war nur schwer zu übersehen. Eine kleine Spitze da, eine größere dort. Er müsse ihre Atempausen nützen, um auch einmal zu Wort zu kommen, meinte Kurz. „Ich kann auch gern aufhören zu atmen, dann können Sie länger reden“, konterte Meinl-Reisinger. Es folgten Unterstellungen und zugespitzte Vorwürfe auf beiden Seiten. Kurz wärmte die Silberstein-Geschichte auf – der israelische Berater hatte die Neos 2015 gratis gecoacht – und Meinl-Reisinger unterstellte Kurz, er würde keine geregelte Zuwanderung von Fachkräften wollen.
Hatte man bei vergangenen kontroversiellen TV-Duellen, etwa zwischen Sebastian Kurz und Heinz-Christian Strache 2017, den Eindruck, das sei letztlich auch Show und die beiden würden bei möglichen Koalitionsverhandlungen schon zusammenfinden, so hatte man diesen Eindruck nun nicht. Die Abneigung ist echt.
Und sie besteht auch nicht erst seit vorgestern. Als die Regierung Kurz Ende Mai per Misstrauensantrag gestürzt wurde und die Neos dabei nicht mittaten, wurde in der ÖVP von einem verdatterten Sebastian Kurz berichtet. Er hatte zuvor Gespräche mit allen Parteichefs geführt, und ausgerechnet jenes mit der Neos-Chefin sei am unfreundlichsten verlaufen. Kurz habe sich mit Meinl-Reisinger zum Entree über deren Baby unterhalten wollen, doch diese habe ihn schroff zurechtgewiesen, dass sie lieber über die sachpolitischen Vorhaben in den kommenden Wochen reden wolle.
Dafür wurde von ÖVP-Seite auch immer wieder einmal gestreut, dass man bei den Neos mit Beate Meinl-Reisinger unglücklich sei und sich Matthias Strolz zurückwünsche.
Strolz war sicher auch der Konziliantere der beiden, mit dem eine Koalition leichter möglich gewesen wäre. Meinl-Reisinger hat gegenüber der ÖVP wohl größere Vorbehalte.
Wobei: Zu zweit würde es sich ohnehin nicht ausgehen. Im Fall des Falles müsste man sich noch mit dem dritten, vom bürgerlichen Baum abgefallenen Ast zusammenraufen – den Grünen.