Ausrufung: Die europäische Republik
Gottlob ist es anders gekommen, und damit bin ich nunmehr endgültig bei Frau Professor Guerot´ und im Speziellen beim BalkonProjekt vom 10. November 2018, der in diesem Fall als hundertster Jahrestag des Endes des Ersten Weltkriegs festgelegt wurde (in Deutschland war schon am Tag zuvor im Gefolge der Novemberrevolution die Republik ausgerufen worden, in Österreich geschah das am 12. November 1918 von der Parlamentsrampe aus). Und deshalb riefen 100 Jahre später an etwa 150 europäischen Plätzen Künstler die europäische Republik aus. Sie taten das in einer Zeit, in der sich Nationalismus in seiner ekelhaften Gestalt nicht nur, aber auch massiv in Europa breitgemacht hatte. Ein Land der Europäischen Union nach dem anderen schien dort sein Heil gefunden zu haben – wie wir jetzt da und dort vor Augen geführt bekommen, neigt diese Art, Politik zu treiben, aufgrund ihres hemmungslosen Unprofessionalismus allerdings auch schon wieder zur Selbstauflösung.
Danach sah es im November 2018 aber noch nicht aus, und deshalb mischten sich die Künstler und Wissenschaftler ein, und sie taten das, wo möglich, von Balkonen, die, schauen wir uns pars pro toto Österreich an, notorisch für emotionale Momente der Geschichte stehen. Und ich meine nicht nur den unheilvollen vom März 1938, und ich meine auch nicht Leopold Figls „Österreich ist frei“, das gar nicht auf dem Balkon des Belvederes gerufen wurde, sondern im dortigen Marmorsaal gesprochen. Aber immerhin habe ich in meinem Maturajahr Bruno Kreisky und Karl Schranz auf dem Balkon des Bundeskanzleramts stehen sehen und glaubte damals, den Widerschein einer welthistorischen Protuberanz auszunehmen.
Dieses Balkon-Projekt von Ulrike Guerot´ und Robert Menasse war nun der Idealfall von Aktionismus, weil er diesen durchaus auch zweifelhaft besetzten Begriff nach Hause zur Kunst gebracht hat, wo er ja speziell hier in Österreich daheim ist – der Wiener Aktionismus zählt zu den wenigen österreichischen Phänomenen, die sich dauerhaft in die Kunstgeschichte einschreiben konnten. Und dieses Balkon-Projekt zeigt auch exemplarisch, wie im Fokus, was das Wesen einer Utopie ist: Sie ist maßlos, aber einlösbar.