Die Macht der Utopie
Wenn wir von Platons „Politeia“ausgehen, von deren Forderungen etwa der Feminismus weitgehend verwirklicht wurde; wenn wir zum Gründervater des Begriffs kommen, zu Thomas Morus, der die Abschaffung der Todesstrafe postuliert und Migration als Instrument einer sinnvollen Bevölkerungspolitik empfohlen hat, immer vorausgesetzt, dass Platon und Morus es nicht ironisch als das Gegenteil des Gesagten verstanden haben: Dann begreifen wir etwas von der Macht der Utopie. Und kürzlich hat mich unser Preisträger Konrad Liessmann zu meiner Verblüffung darüber belehrt, dass 80 Prozent der Forderungen des Marx’schen „Kapitals“in Österreich übererfüllt sind (das reicht bis zur Bankenaufsicht). Das wissend, tun wir uns mit den radikalen Guerot’schen´ Forderungen plötzlich sehr leicht. Frau Professor Guerot´ wurde 1964 in Grevenbroich, Nordrhein-Westfalen, geboren, sie hat in Münster über die französischen Sozialisten dissertiert, und sie ist bald in den Bann der europäischen Idee gekommen, nämlich über die CDU.
Sie war hier parlamentarische Mitarbeiterin von Karl Lamers, der sich mit dem Lamers-Schäuble-Konzept zu Kerneuropa in die Geschichte eingeschrieben hat, sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Jacques Delors, dem Präsidenten der Europäischen Kommission, und ehe ich hier uneleganterweise weiter Wikipedia rezitiere, beschränke ich mich auf die Kernpunkte ihres Wirkens, die Gründung des European Democracy Lab in Berlin anno 2014 und ihre 2016 angetretene Professur für Europapolitik und Demokratieforschung an der Donauuniversität in Krems. ropa eine Republik werden muss“mit dem – es kann Ihnen nicht entgangen sein – mich speziell animierenden Untertitel „Eine politische Utopie“.
Vor mir liegt, während ich diesen Text verfasse, neben diesem Buch und Robert Menasses wunderbarer Rede „Kritik der europäischen Vernunft“auch ein noch wesentlich kämpferisches Bändchen von Frau Professor Guerot:´ „Der neue Bürgerkrieg – das offene Europa und seine Feinde“. Wir lesen da, dass sich Europa im „kalten Frieden“befinde, im „europäischen Bürgerkrieg“, und wir bleiben rasch beim Kapitel „Die Ursprünge des europäischen Populismus“hängen, die, kurz und vereinfacht, darin liegen, dass der Wirtschaftsraum kein Sozialraum geworden ist, sodass die nationale Politik gefordert ist, ihre Klientel in der Zeit des enthemmten Fresskapitalismus vor der Verelendung zu bewahren. Gefordert wird daher die europäische Fiskal- und Sozialunion. Ich zitiere: „Die Tatsache, dass wir jede gesellschaftliche Utopie verloren haben, ja nicht einmal mehr fähig sind, politisch und wirtschaftspolitisch in Alternativen zu denken, wird in der politischen Theorie seit Jahren breit diskutiert. Doch wo die Linke ihren Phantomschmerz über das verlorene revolutionäre Subjekt beklagt, wo die liberale Mitte keine Wärme, Identität und Orientierung, keine Gemeinschaft und keinen Anstand mehr zu offerieren hat, da haben die Nationalisten und Rechtspopulisten Heilung zu bieten, keine reale zwar, aber wenigstens in Form von Nostalgie und einer nationalen Fahne, in die sich das verlorene Subjekt warm einwickeln kann als Ersatz für verpasste Lebenschancen.“
Wir befinden uns aber mit Glück im „europäischen Vormärz“, fügt Ulrike Guerot´ hinzu und zitiert Johann Gottlieb Fichte und seine „Rede an die deutsche Nation“, wobei der Begriff das genaue Gegenteil dessen bezeichnet, was ihn heute die Ehre und die Anwendbarkeit gekostet hat: Nämlich Deutschsein als Äquivalent für geistiges Weltbürgertum.