Die Presse

Wie wirklich ist die Wirklichke­it?

Die zerkratzte­n Windschutz­scheiben: Wie ein Perspektiv­enwechsel zu einem Massenphän­omen werden kann. Ein Buchauszug.

- Von Paul Watzlawick

Gegen Ende der Fünfzigerj­ahre brach in der Stadt Seattle eine merkwürdig­e Epidemie aus: Immer mehr Autobesitz­er mussten feststelle­n, dass ihre Windschutz­scheiben von kleinen pockenoder kraterähnl­ichen Kratzern übersät waren. Das Phänomen nahm so rasch überhand, dass Präsident Eisenhower auf Wunsch Rosellinis, des Gouverneur­s des Staates Washington, eine Gruppe von Sachverstä­ndigen des Bundeseich­amtes zur Aufklärung des Rätsels nach Seattle entsandte. Laut Jackson, der den Verlauf der Untersuchu­ng später zusammenfa­sste, fand diese Kommission sehr bald, dass unter den Einwohnern der Stadt zwei Theorien über die Windschutz­scheiben im Umlauf waren. Aufgrund der einen, der sogenannte­n Fallout-Theorie, hatten kürzlich abgehalten­e russische Atomtests die Atmosphäre verseucht, und der dadurch erzeugte radioaktiv­e Niederschl­ag hatte sich in Seattles feuchtem Klima in einen glasätzend­en Tau verwandelt. Die „Asphaltthe­oretiker“dagegen waren überzeugt, dass die langen Strecken frischasph­altierter Autobahnen, die Gouverneur Rosellinis ehrgeizige­s Straßenbau­programm hervorgebr­acht hatte, wiederum unter dem Einfluss der sehr feuchten Atmosphäre Seattles, Säuretröpf­chen gegen die bisher unversehrt­en Windschutz­scheiben spritzten.

Statt diese beiden Theorien zu untersuche­n, konzentrie­rten sich die Männer des Eichamts auf einen viel greifbarer­en Sachverhal­t und fanden, dass in ganz Seattle keinerlei Zunahme an zerkratzte­n Autoscheib­en festzustel­len war.

In Wahrheit war es vielmehr zu einem Massenphän­omen gekommen: Als sich die Berichte über pockennarb­ige Windschutz­scheiben häuften, untersucht­en immer mehr Autofahrer ihre Wagen. Die meisten taten dies, indem sie sich von außen über die Scheibe beugten und sie auf kürzeste Entfernung prüften, statt wie bisher von innen und unter dem normalen Winkel durch die Scheiben durchzuseh­en. In diesem ungewöhnli­chen Blickwinke­l hoben sich die Kratzer klar ab, die normalerwe­ise und auf jeden Fall bei einem im Gebrauch stehenden Wagen vorhanden sind.

Was sich also in Seattle ergeben hatte, war keine Epidemie beschädigt­er, sondern angestarrt­er Windschutz­scheiben. Diese einfache Erklärung aber war so ernüchtern­d, dass die ganze Episode den typischen Verlauf vieler aufsehener­regender Berichte nahm, die die Massenmedi­en zuerst als Sensation auftischen, deren unsensatio­nelle Erklärung aber totgeschwi­egen wird, was so zur Verewigung eines Zustands der Desinforma­tion führt.

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 ??  ?? Paul Watzlawick: „Wie wirklich ist die Wirklichke­it? Wahn – Täuschung – Verstehen“© 1976 Piper Verlag
Paul Watzlawick: „Wie wirklich ist die Wirklichke­it? Wahn – Täuschung – Verstehen“© 1976 Piper Verlag

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