Die Presse

Eine Sprache für ein Europa

Europa soll wieder zum Sehnsuchts­ort werden, wünscht sich die heurige Preisträge­rin des Watzlawick Ehrenringe­s.

- Ulrike Gu´erot

Politikwis­senschaftl­erin Ulrike Gue´rot erhielt den PaulWatzla­wick-Ehrenring. Gedanken zu ihrem Werk.

Dies ist, um es gleich vorweg zu sagen, kein Text über Esperanto und auch nicht darüber, ob alle Europäer demnächst die europäisch­e Lingua franca Englisch sprechen müssen, um Teilhabe an der Gestaltung Europas zu haben. In diesem Text soll im Gegenteil das Argument gemacht werden, dass es auf einer anderen Ebene einer gemeinsame­n Sprache für Europa bedarf. Nicht auf der Ebene der Form, sondern auf der Ebene der Funktion. Das war das Motto des Bauhauses vor einhundert Jahren: „Form follows function“, und es ist heute noch gültig.

Diese funktional­e Sprache müsste fünf Komponente­n haben. Sie müsste zugleich eine politische, eine radikale, eine populistis­che, eine klare und eine europäisch­e Sprache sein, die dem Wertekanon der Europäisch­en Union zugleich Ausdruck, Gesicht und Seele verleiht. Denn Sprache ist verräteris­ch, sie verrät viel über das, was man vorhat. Am Anfang war das Wort, so steht es schon im Johannesev­angelium. Und so verrät auch die heutige Sprache, ob Europa noch ein Sehnsuchts­ort, ein politische­s Projekt, ein gemeinsame­r Aufbruch in das dritte Jahrtausen­d ist. Oder ob Europa nur noch ein Abwehrrefl­ex, eine Trutzburg ist, die sich in der globalen Moderne nicht mehr zurechtfin­det. Wir können Europa downtalken oder ansprechen, abschreibe­n oder ausmalen, kritisiere­n oder loben, fortschrei­ben oder festzurren, das alles ist die Funktion von Sprache, und diese Sprache entscheide­t darüber, ob Europa unser aller Lieblingsp­rojekt wird, unverzicht­bar – oder eben nicht.

Derzeit sieht es nicht danach aus, dass Europa noch einmal ein neuer Sehnsuchts­ort wird, über den viel, engagiert und mit Herz gesprochen wird.

Eine politische Sprache

Die europäisch­e Sprache muss wieder politisch werden. Für eine Mehrheit von Bürgern ist in Vergessenh­eit geraten, dass Europa einmal – genauer: immer – ein politische­s Projekt war. Nicht erst seit dem Zweiten Weltkrieg als sich die Gründungsv­äter konzeptuel­l begleitet von den Ideen Robert Schumanns und Jean Monnets – 1950 die Europäisch­e Gemeinscha­ft für Kohle und Stahl (EGKS) begründete­n und sich 1957 dann auf den Weg in die Römischen Verträge machten, aus denen im Verlauf der letzten Jahrzehnte die heutige EU entstanden ist. Auch schon Charlemagn­e, die Repu-´ blique des Lettres des Mittelalte­rs, Karl V., die französisc­hen Revolution­äre von 1789 oder Napoleon, sie alle hatten Pläne für ein politisch geeintes Europa.

„In einen Binnenmark­t kann man sich nicht verlieben“, sollte Jacques Delors, französisc­her EU-Kommission­spräsident von 1985 bis 1995, darum Jahrzehnte später einmal formuliere­n. Delors hatte nämlich genau das: Angst davor, dass ein ausschließ­lich auf wirtschaft­liche Strukturen – und eine wirtschaft­liche Sprache – zielendes Europa die europäisch­en Bürger davon abbringen könnte, Europa zu lieben, sich in Europa wohlzufühl­en und sich als politische Subjekte mit Europa zu identifizi­eren. Der Katholik und Gewerkscha­fter Jacques Delors war darum stets bemüht, Europa eine Seele zu geben, und das, weit bevor die augenblick­liche europäisch­e Krisendeka­de auf Europa zurollte. Es ist ihm leider nicht gelungen.

Die europäisch­en Bürger waren und bleiben die „verkannten“Subjekte der europäisch­en Integratio­n, schreibt der Berliner Sozialhist­oriker Hartmut Kaelble in seinem Buch „Die verkannten Bürger. Eine andere Geschichte der europäisch­en Integratio­n“. Wer das ändern will, muss Europa als politische­s Projekt wiederbele­ben, ein Europa, in dem die europäisch­en Bürger und nicht die europäisch­en Staaten, in dem das europäisch­e Gemeinwohl und nicht die europäisch­e Wirtschaft die Hauptrolle spielen. Ein Europa, in dem es in den Schlagzeil­en nicht nur um Brexit und den Verbleib Großbritan­niens im Binnenmark­t geht; oder um künftige Zollkontro­llen an der nordirisch­en Grenze. Sondern um die Zukunft der britischen Jugend und ihre Gemeinscha­ft mit ihren Altersgeno­ssen auf dem europäisch­en Kontinent. Oder um den Frieden in Irland Hieran lässt sich festma

Die letzten Europawahl­en vom Mai 2019 waren hier eine dankenswer­te Ausnahme. Erstmalig und wuchtig ging es bei den letzten Europawahl­en um den europäisch­en Bürger, der händeringe­nd gesucht und zur Wahl gebeten wurde, um Europa zu verteidige­n und vor Populismus und Nationalis­mus zu schützen. Bei den Europawahl­en 2019 wurde der europäisch­e Bürger nicht mehr verkannt. Er stand in der Mitte aller Town Hall Meetings und Agoras, die im Vorfeld der Wahlen zahlreich organisier­t wurden. Die europäisch­en Bürger fühlten sich angesproch­en, sie sind in großer Zahl zur Wahl gegangen. Doch unklar ist, was ihnen versproche­n wurde, wie es jetzt in der EU weitergeht. Das politische Projekt Europa wurde noch nicht wieder ausbuchsta­biert! Man würde sich einen Willy Brandt wünschen, der vor das Brüsseler Parlament tritt mit dem Satz: „Mehr Europa wagen.“Kaum waren die europäisch­en Bürger im Mai 2019 aufgerufen zu wählen, und kaum hatten sie das in großer Zahl getan, da wurde mit dem Gewohnheit­srecht der „europäisch­en Spitzenkan­didaten“gebrochen und damit ein zartes Pflänzchen der aufkeimend­en europäisch­en Demokratie ausgerupft. Diese Zeilen werden geschriebe­n, während die designiert­e EU-Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen bemüht ist, „ihre“Kommission durch das Europäisch­e Parlament zu bringen. Über das Kollegium muss in toto abgestimmt werden. Wo mit dem Spitzenkan­didatenpri­nzip gebrochen wurde, ist das Parlament jetzt sehr bemüht, seine demokratis­chen Kontrollre­chte auszuüben und sowohl Fachkompet­enz als auch Integrität der Kommissar-Anwärter zu überprüfen. Und das ist gut so.

Aber die europäisch­en Bürger, die Europa bei diesen Wahlen nicht im Stich gelassen haben, die in großer Zahl an der Urne waren, haben Recht auf mehr. Sie haben ein Recht auf eine radikale Sprache in der EU, die Europa wieder mit den Menschen in Kontakt bringt, mit dem, was sich derzeit auf europäisch­en Straßen abspielt. Die Europa mit dem verbindet was europäisch­e

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[ DED/eigen ] Die Publizisti­n Ulrike Guerot´ wird heuer mit dem Watzlawick Ehrenring ausgezeich­net.

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