Kettcar-Hersteller Kettler stellt Fertigung ein
Ulrike Gu´erot fordert die „europäische Republik“, Konrad Paul Liessmann kann ihr nichts abgewinnen. Ein Streitgespräch. Wenn wir eine europäische Umverteilung hätten, wäre Europa eine Nation.
Der deutsche Freizeitgerätebauer Kettler muss endgültig seine Werke schließen. Bereits seit mehreren Jahren hing das Schicksal der Traditionsfirma am seidenen Faden.
Die Presse: Es soll künftig einen EU-Kommissar für den „Schutz unseres europäischen Lebensstils“geben. Entspricht das Ihrer Idee von Europa?
Ulrike Guerot:´ Ich habe zunehmend Probleme zu verstehen, was wir überhaupt meinen, wenn wir von Europa reden. In den Neunzigerjahren war es klar: Es ging um den Binnenmarkt, den Euro und die Osterweiterung. Das haben wir jetzt alles, und wir sind zu Recht stolz darauf. Aber wir wissen heute nicht mehr, ob die Briten mit dabei sind. Oder wen wir in Osteuropa noch meinen, wenn wir von „unserem Europa“sprechen, das seine Werte verteidigt. Oder ob sich die EU am Balkan wirklich erweitern wird, was ja so lange schon in Schwebe ist.
Ist das nicht eine sehr wacklige Basis für Ihr Ziel einer europäischen Republik? Ist eine stärkere politische Union damit nicht heute diffuser denn je?
Guerot:´ Ja. Aber mit Luther argumentiert ist das europäische Projekt das Apfelbäumchen, das man heute pflanzt.
Herr Liessmann, was würden denn Sie pflanzen?
Konrad Paul Liessmann:
Luther pflanzt sein Bäumchen ja angesichts der Tatsache, dass morgen die Welt untergeht. So defätistisch bin ich in Bezug auf Europa nicht. Aber die großen Projekte von früher haben uns darüber hinweggetäuscht, dass wir keinen klaren Begriff von Europa besitzen, von einer europäischen Identität oder eben Lebensweise. Wenn man bekommt, was man sich gewünscht hat: Was macht man dann? Sicher, man muss nachbessern. Und eine große Aufgabe wäre, den internationalen digitalen Konzernen Paroli zu bieten. Auch der Balkan harrt seiner europäischen Lösung. Manche Länder bleiben gegenüber dem Euro skeptisch. Aber statt die Probleme mit Enthusiasmus anzugehen, macht sich Müdigkeit breit.
Da kommt doch ein Verdacht auf: Wenn wir laufend Projekte brauchen, um ein Gemeinschaftsgefühl zu schaffen, das uns sonst fehlt – kann es sein, dass es die viel beschworene europäische Identität dann gar nicht gibt?
Guerot:´ Wir wissen genau, was die EU ist: wer drin ist, ihre Pläne, ihr Rechtsrahmen. Aber wir haben eine Sehnsucht nach einem Europa das darüber hinausgeht: Nach einer Union mit einem stärkeren demokratischen Charakter und Gehalt. Wir diskutieren wie auf des Messers Schneide: Kriegen wir aus dieser EU als Vorform von Europa – mit Euro und Schengen, was wir auch nicht aufgeben wollen – eine Demokratie, ein kritisches, emotionales Projekt, das den Bürgern gefällt, in dem sie sich wiederfinden? Wir müssen Europa anders denken, um wieder Wärme in das Projekt zu bringen.
Wo bitte ist Europa undemokratisch? Die Beteiligung zur Parlamentswahl ist doch gestiegen, die Kommissionsmitglieder werden von demokratisch gewählten Regierungen vorgeschlagen
... Guerot:´ Was die Wahlbeteiligung betrifft: Die 51 Prozent waren höher als 2014, aber im historischen Vergleich eher niedrig. Und das haben wir nur durch einen extremen medialen Wirbel und sehr viel Mobilisierung geschafft. Ich saß von Jänner bis April jeden Tag in einer anderen Stadt in einem Bürgerforum. Es war eine Alarmstimmung: Die Bürger müssen endlich kapieren, dass Europa gut ist. Da hatte ja nichts Entspanntes. Nur damit dann am 16. Juli mit der Entscheidung über die Kommissionspräsidentin das passiert ist, was manche befürchtet haben. Ich weiß, das Spitzenkandidatensystem ist nicht Teil des Vertragsrechts. Aber viele, die für Europa aufgestanden sind, waren frustriert. Ich auch. Das war so, wie wenn die Österreicher über etwas abstimmen, und am Tag danach entscheiden die Landeshauptleute: Das machen wir anders. So etwas würden Ihre Bürger auch nicht so einfach hinnehmen. Dabei finde ich von der Leyen recht cool. Aber es hätte der EU gut getan, wenn die Kommissionsspitze aus dem Parlament hervorgegangen wäre.
Herr Liessmann, sind Sie auch frustriert über ein Demokratiedefizit in der EU?
Liessmann: Ich hatte gar nicht angenommen, dass man sich an die aus Gründen der Wahlpropaganda vorgeschobene Selbstverpflichtung halten würde. Mir war klar, dass die Machtspiele hinter den Kulissen anders ablaufen, als man es den Wählern vorher suggeriert. Das gehört zu den Grundproblemen jeder demokratischen Verfassung. Die EU ist eine einzigartige Mischung: Nationalstaaten als demokratische Basis und supranationale Formen. Sicher sind sie über mehrere Instanzen demokratisch legitimiert, aber wenn ich zur EU-Wahl gehe, habe ich nicht das Gefühl, mit meiner Stimme das zu tun, was ich bei einer Nationalratswahl mache. Kann man das auf die Schnelle ändern? Es ist eine intelligente, ausgewogene Mischung. Nur weil Nationalstaaten sich zusammenschließen, verschwinden sie ja nicht – wie bei einer Beziehung. Nur die Rechte und Pflichten ändern sich, es bleiben die souveränen Subjekte. Eine „europäische Republik“kann ich mir nur vorstellen nach dem Modell der alten Nationalstaaten, die sie eigentlich überwinden sollte. Mir fällt nichts Besseres ein. Die Rhetorik erinnert mich ans 19. Jahrhundert: Schluss mit der Kleinstaaterei! – das war das Programm der Deutschnationalen, und das macht mich vorsichtig.
Es gibt auch von Staaten gebildete Abstimmungs- und Entscheidungsblöcke, gegen die Doppellokomotive Deutschland-Frankreich: der „Club Med“, die neue Hanse, die von allen kritisierten und damit an den Rand gedrängten Visegrad-´Staaten. Ist das eine Chance oder sehen Sie das nur negativ?
Guerot:´ Sie stellen damit auf Entscheidungsmechanismen ab, die staatenbasiert sind – und das ist Gift! Staaten sind nicht mehr die einzigen, wichtigsten, repräsentativen Akteure. Wer ist denn der Staat in Frankreich: die Gelbwesten, Marine Le Pen oder Macron? Oder in Polen: die PiS-Partei oder die, die gegen sie demonstrieren? Von der Staatenunion zur Bürgerunion – darüber müssen wir diskutieren.
Liessmann: Ich sehe das nicht so durch die rosarote Brille. Ein Staat hat immer innere Konflikte aber er handelt über seine ge bleme so schwierig sind, erleben wir es als Ohnmacht. Das war bei Macron so, als er es mit den Gelbwesten zu tun bekam, und bei Merkel, als die Flüchtlingskrise ausbrach. Da hat jeder gesagt: „Jetzt ist das Land geschwächt, jetzt funktioniert die deutschfranzösische Achse nicht mehr! Was machen wir jetzt mit Europa?“Wenn Sie die Nationalstaaten in Bürgerbewegungen auflösen wollen: Warum braucht man dafür eigentlich Europa, warum nicht gleich global? Eine europäische Bürgerrechtsbewegung hat mit den Protesten in Hongkong viel mehr zu tun als ein baltischer Digitalunternehmer mit einem sizilianischen Tomatenbauern. So könnte man Europa zur globalen Avantgarde machen: Als das erste Ideenkonglomerat, das sich selbst abschafft. Wenn man das nicht will, muss man eine klare Antwort geben: Was heißt es, als Europäer europäisch leben zu wollen?
Warum verbindet eine Nation ihre Bürger so stark? Könnte Europa künftig das auch?
Guerot:´ Die Nation ist nicht in erster Linie ein Territorium, auch keine Identität im Sinne von Herkunft und Abstammung. Das sind alles nur Konstrukte. Die Nation ist institutionalisierte, in Verfassung gebrachte Solidarität. Ich befinde mich als deutsche Bundesbürgerin in einem Solidarverband mit Kevin aus Rostock, weil über meine Steuern sein Hartz IV bezahlt wird – aber nicht mit Gregory aus Griechenland. Wenn wir eine europäische Umverteilung hätten, wäre Europa eine Nation.
Gerade wegen falscher Umverteilung an Griechenland wäre die Eurozone und in der Folge die EU fast zerbrochen . . .
Guerot:´ Eine Umverteilung gab es ja nicht. Es gab nur überteuerte Kredite von deutschen und französischen Banken an griechi
Liessmann: Es hätte fürs erste genügt, wenn der griechische Solidarpakt funktioniert hätte, wenn nämlich die reichen Reeder ihre Steuern gezahlt hätten . . .
Guerot:´ Da bin ich dabei. Das gilt dann aber auch für BMW oder die Panama Papers. Dann geht es generell um den Verfall von Staatlichkeit und Steuermoral, das Anlocken von Konzernen durch Nichtbesteuerung – und das sind sozio-strukturelle Probleme, die es weltweit gibt. Die haben nichts mit Europa zu tun.
Liessmann: Wir dürfen doch eines nicht vergessen: Der Nationalstaat ist entstanden als Zerfallserscheinung transnationaler Gebilde: Der alten Feudalaristokratien. Diese Eliten konnten sich auf Französisch verständigen, waren verheiratet und verschwägert, hatten den gleichen Lebensstil – aber sie waren trotzdem nicht imstande, das Gespenst des Nationalismus zu bannen. Demokratien haben bisher nur in Nationalstaaten funktioniert. Nicht in transnationalen Gebilden, die immer die Tendenz haben, sich zu refeudalisieren.
Guerot:´ Genau! Wir haben eine Vermittelalterlichung Europas. Der Binnenmarkt und der Euro haben Spaltungen produziert, die nicht kongruent zu den nationalen Grenzen verlaufen.
Bringen wir Ihre Argumentation auf den Punkt, Frau Guerot:´ Wäre die EU weniger kapitalistisch, würde sie besser funktionieren.
Guerot:´ Wenn Sie es so einfach wollen, ja. Dass der Kapitalismus zu scheitern droht, liegt ja auf dem Tisch. Schauen Sie sich die Klimadebatte an: Da zeigen viele Ökonomen dass der Kapitalismus der immer auf
nicht auf neun Milliarden Menschen skalierbar ist. Die können nicht alle fliegen, Fleisch essen und SUV fahren. Wir müssen auch darüber nachdenken, ob unsere Demokratie verbotsfähig ist, ob wir etwa SUVs untersagen können.
Liessmann: Der Kapitalismus hat darauf eine andere, ganz einfache Antwort: Dann wird Fliegen und SUV-Fahren so teuer, dass es sich nur mehr wenige leisten können, deren Mobilität das Weltklima nicht mehr negativ beeinflusst.
Guerot:´ Dann sind wir aber bei einer völlig refeudalisierten Gesellschaft. Und der Feudalismus ist ein Antipode zur Demokratie. Dann machen wir alles kapitalistisch, aber nicht mehr demokratisch.
Es ist doch kein Feudalismus, dass ich mir keinen Porsche leisten kann. Das ist doch okay.
Liessmann: Ich denke auch: In einer Demokratie muss jeder seine Rechte und Lebenschancen haben, aber es muss nicht jeder bestimmte Dinge konsumieren können. Und es gibt ja, wenn man Nietzsche gegen den Strich liest, eine Gegenstrategie: Man codiert das, was man sich nicht leisten kann, moralisch negativ. Dann müssen sich die Millionäre derart für ihr Konsumverhalten schämen, dass ihnen die Freude am Fliegen und SUV Fahren vergeht die SUV-Fahrer wirklich schämen. Der Kapitalismus wird das schon alles durchstehen, Europa im Zweifelsfall auch. Aber die Demokratie wird uns verloren gehen, wenn wir nur mehr die „Liberte“´ hochhalten, aber die „E´galite´“und die „Fraternite´“fallen lassen. Gleichheit darf man ja gar nicht mehr sagen, da gilt man schon als Sozialneid-Aktivist. Sobald aber die Gleichheit kein gesellschaftliches Ideal mehr ist, kriegen wir chinesische Verhältnisse: Kapitalismus ohne Demokratie.
Ein zweiter Elefant steht auch noch im Raum: Das Migrationsthema . . .
Liessmann: In der Menschenrechtserklärung heißt es: Wir sind mit gleichen Rechten geboren. Folgt aus diesem Anspruch, dass jeder das Recht hat, in Europa zu leben? Manche argumentieren: Es gibt ein Weltbürgerrecht, dort zu wohnen, wo man will. Aber Solidargemeinschaften müssen ihre Grenzen haben, sonst funktionieren sie nicht. Damit haben sie – mehr oder weniger humane – Ausschlussverfahren. Auch eine europäische Republik bräuchte Grenzen, und Regeln, wie man zu einem europäischen Pass kommt. Wir wissen: Migranten assimilieren sich nicht vollständig, die Gesellschaft transformiert sich durch sie, und es ist legitim, darüber nachzudenken, was wir hier wollen und was nicht Man kann auch nicht schlechter, die Prinzipien der Gleichheit, ein Rechtsstaat, der mehr gilt als die Familiensolidarität im Clan: Das ist ja alles nicht vom Himmel gefallen, sondern in schweren Kämpfen durchgesetzt worden.
Guerot:´ Hier stimme ich zu. Eine globale Freizügigkeit wäre immer neoliberal unterfüttert: Die Geflüchteten können zwar überall ihr Glück suchen, aber sie bekommen keine staatliche Hilfe. Damit würde das europäische Alleinstellungsmerkmal Sozialstaat wegfallen. Das müssen wir uns deutlich machen, wenn wir über globales Bürgertum verhandeln.
Bräuchten wir dann für ein Europa, das sein Sozialstaatsmodell bewahren will, nicht geschlossenere Grenzen?
Guerot:´ Absolut. Aber es muss sowohl Grenzkontrollen als auch legale Möglichkeiten der Einwanderung geben. Das ist eine dialektische Beziehung. Jenseits vom Asyl, das immer gewährleistet sein muss, machen wir zum Beispiel pro Jahr 100.000 Greencards, ähnlich wie die Amerikaner. Also: Grenzen zu und legale Migrationswege!
Liessmann: Genau!
Wir danken für den kompromissfreudigen Abschluss des Gesprächs.
Schluss mit der Kleinstaaterei“– das war das Programm der Deutschnationalen, und das macht mich vorsichtig.