Die Presse

Kettcar-Hersteller Kettler stellt Fertigung ein

Ulrike Gu´erot fordert die „europäisch­e Republik“, Konrad Paul Liessmann kann ihr nichts abgewinnen. Ein Streitgesp­räch. Wenn wir eine europäisch­e Umverteilu­ng hätten, wäre Europa eine Nation.

- Rainer Nowak und Karl Gaulhofer

Der deutsche Freizeitge­rätebauer Kettler muss endgültig seine Werke schließen. Bereits seit mehreren Jahren hing das Schicksal der Traditions­firma am seidenen Faden.

Die Presse: Es soll künftig einen EU-Kommissar für den „Schutz unseres europäisch­en Lebensstil­s“geben. Entspricht das Ihrer Idee von Europa?

Ulrike Guerot:´ Ich habe zunehmend Probleme zu verstehen, was wir überhaupt meinen, wenn wir von Europa reden. In den Neunzigerj­ahren war es klar: Es ging um den Binnenmark­t, den Euro und die Osterweite­rung. Das haben wir jetzt alles, und wir sind zu Recht stolz darauf. Aber wir wissen heute nicht mehr, ob die Briten mit dabei sind. Oder wen wir in Osteuropa noch meinen, wenn wir von „unserem Europa“sprechen, das seine Werte verteidigt. Oder ob sich die EU am Balkan wirklich erweitern wird, was ja so lange schon in Schwebe ist.

Ist das nicht eine sehr wacklige Basis für Ihr Ziel einer europäisch­en Republik? Ist eine stärkere politische Union damit nicht heute diffuser denn je?

Guerot:´ Ja. Aber mit Luther argumentie­rt ist das europäisch­e Projekt das Apfelbäumc­hen, das man heute pflanzt.

Herr Liessmann, was würden denn Sie pflanzen?

Konrad Paul Liessmann:

Luther pflanzt sein Bäumchen ja angesichts der Tatsache, dass morgen die Welt untergeht. So defätistis­ch bin ich in Bezug auf Europa nicht. Aber die großen Projekte von früher haben uns darüber hinweggetä­uscht, dass wir keinen klaren Begriff von Europa besitzen, von einer europäisch­en Identität oder eben Lebensweis­e. Wenn man bekommt, was man sich gewünscht hat: Was macht man dann? Sicher, man muss nachbesser­n. Und eine große Aufgabe wäre, den internatio­nalen digitalen Konzernen Paroli zu bieten. Auch der Balkan harrt seiner europäisch­en Lösung. Manche Länder bleiben gegenüber dem Euro skeptisch. Aber statt die Probleme mit Enthusiasm­us anzugehen, macht sich Müdigkeit breit.

Da kommt doch ein Verdacht auf: Wenn wir laufend Projekte brauchen, um ein Gemeinscha­ftsgefühl zu schaffen, das uns sonst fehlt – kann es sein, dass es die viel beschworen­e europäisch­e Identität dann gar nicht gibt?

Guerot:´ Wir wissen genau, was die EU ist: wer drin ist, ihre Pläne, ihr Rechtsrahm­en. Aber wir haben eine Sehnsucht nach einem Europa das darüber hinausgeht: Nach einer Union mit einem stärkeren demokratis­chen Charakter und Gehalt. Wir diskutiere­n wie auf des Messers Schneide: Kriegen wir aus dieser EU als Vorform von Europa – mit Euro und Schengen, was wir auch nicht aufgeben wollen – eine Demokratie, ein kritisches, emotionale­s Projekt, das den Bürgern gefällt, in dem sie sich wiederfind­en? Wir müssen Europa anders denken, um wieder Wärme in das Projekt zu bringen.

Wo bitte ist Europa undemokrat­isch? Die Beteiligun­g zur Parlaments­wahl ist doch gestiegen, die Kommission­smitgliede­r werden von demokratis­ch gewählten Regierunge­n vorgeschla­gen

... Guerot:´ Was die Wahlbeteil­igung betrifft: Die 51 Prozent waren höher als 2014, aber im historisch­en Vergleich eher niedrig. Und das haben wir nur durch einen extremen medialen Wirbel und sehr viel Mobilisier­ung geschafft. Ich saß von Jänner bis April jeden Tag in einer anderen Stadt in einem Bürgerforu­m. Es war eine Alarmstimm­ung: Die Bürger müssen endlich kapieren, dass Europa gut ist. Da hatte ja nichts Entspannte­s. Nur damit dann am 16. Juli mit der Entscheidu­ng über die Kommission­spräsident­in das passiert ist, was manche befürchtet haben. Ich weiß, das Spitzenkan­didatensys­tem ist nicht Teil des Vertragsre­chts. Aber viele, die für Europa aufgestand­en sind, waren frustriert. Ich auch. Das war so, wie wenn die Österreich­er über etwas abstimmen, und am Tag danach entscheide­n die Landeshaup­tleute: Das machen wir anders. So etwas würden Ihre Bürger auch nicht so einfach hinnehmen. Dabei finde ich von der Leyen recht cool. Aber es hätte der EU gut getan, wenn die Kommission­sspitze aus dem Parlament hervorgega­ngen wäre.

Herr Liessmann, sind Sie auch frustriert über ein Demokratie­defizit in der EU?

Liessmann: Ich hatte gar nicht angenommen, dass man sich an die aus Gründen der Wahlpropag­anda vorgeschob­ene Selbstverp­flichtung halten würde. Mir war klar, dass die Machtspiel­e hinter den Kulissen anders ablaufen, als man es den Wählern vorher suggeriert. Das gehört zu den Grundprobl­emen jeder demokratis­chen Verfassung. Die EU ist eine einzigarti­ge Mischung: Nationalst­aaten als demokratis­che Basis und supranatio­nale Formen. Sicher sind sie über mehrere Instanzen demokratis­ch legitimier­t, aber wenn ich zur EU-Wahl gehe, habe ich nicht das Gefühl, mit meiner Stimme das zu tun, was ich bei einer Nationalra­tswahl mache. Kann man das auf die Schnelle ändern? Es ist eine intelligen­te, ausgewogen­e Mischung. Nur weil Nationalst­aaten sich zusammensc­hließen, verschwind­en sie ja nicht – wie bei einer Beziehung. Nur die Rechte und Pflichten ändern sich, es bleiben die souveränen Subjekte. Eine „europäisch­e Republik“kann ich mir nur vorstellen nach dem Modell der alten Nationalst­aaten, die sie eigentlich überwinden sollte. Mir fällt nichts Besseres ein. Die Rhetorik erinnert mich ans 19. Jahrhunder­t: Schluss mit der Kleinstaat­erei! – das war das Programm der Deutschnat­ionalen, und das macht mich vorsichtig.

Es gibt auch von Staaten gebildete Abstimmung­s- und Entscheidu­ngsblöcke, gegen die Doppelloko­motive Deutschlan­d-Frankreich: der „Club Med“, die neue Hanse, die von allen kritisiert­en und damit an den Rand gedrängten Visegrad-´Staaten. Ist das eine Chance oder sehen Sie das nur negativ?

Guerot:´ Sie stellen damit auf Entscheidu­ngsmechani­smen ab, die staatenbas­iert sind – und das ist Gift! Staaten sind nicht mehr die einzigen, wichtigste­n, repräsenta­tiven Akteure. Wer ist denn der Staat in Frankreich: die Gelbwesten, Marine Le Pen oder Macron? Oder in Polen: die PiS-Partei oder die, die gegen sie demonstrie­ren? Von der Staatenuni­on zur Bürgerunio­n – darüber müssen wir diskutiere­n.

Liessmann: Ich sehe das nicht so durch die rosarote Brille. Ein Staat hat immer innere Konflikte aber er handelt über seine ge bleme so schwierig sind, erleben wir es als Ohnmacht. Das war bei Macron so, als er es mit den Gelbwesten zu tun bekam, und bei Merkel, als die Flüchtling­skrise ausbrach. Da hat jeder gesagt: „Jetzt ist das Land geschwächt, jetzt funktionie­rt die deutschfra­nzösische Achse nicht mehr! Was machen wir jetzt mit Europa?“Wenn Sie die Nationalst­aaten in Bürgerbewe­gungen auflösen wollen: Warum braucht man dafür eigentlich Europa, warum nicht gleich global? Eine europäisch­e Bürgerrech­tsbewegung hat mit den Protesten in Hongkong viel mehr zu tun als ein baltischer Digitalunt­ernehmer mit einem sizilianis­chen Tomatenbau­ern. So könnte man Europa zur globalen Avantgarde machen: Als das erste Ideenkongl­omerat, das sich selbst abschafft. Wenn man das nicht will, muss man eine klare Antwort geben: Was heißt es, als Europäer europäisch leben zu wollen?

Warum verbindet eine Nation ihre Bürger so stark? Könnte Europa künftig das auch?

Guerot:´ Die Nation ist nicht in erster Linie ein Territoriu­m, auch keine Identität im Sinne von Herkunft und Abstammung. Das sind alles nur Konstrukte. Die Nation ist institutio­nalisierte, in Verfassung gebrachte Solidaritä­t. Ich befinde mich als deutsche Bundesbürg­erin in einem Solidarver­band mit Kevin aus Rostock, weil über meine Steuern sein Hartz IV bezahlt wird – aber nicht mit Gregory aus Griechenla­nd. Wenn wir eine europäisch­e Umverteilu­ng hätten, wäre Europa eine Nation.

Gerade wegen falscher Umverteilu­ng an Griechenla­nd wäre die Eurozone und in der Folge die EU fast zerbrochen . . .

Guerot:´ Eine Umverteilu­ng gab es ja nicht. Es gab nur überteuert­e Kredite von deutschen und französisc­hen Banken an griechi

Liessmann: Es hätte fürs erste genügt, wenn der griechisch­e Solidarpak­t funktionie­rt hätte, wenn nämlich die reichen Reeder ihre Steuern gezahlt hätten . . .

Guerot:´ Da bin ich dabei. Das gilt dann aber auch für BMW oder die Panama Papers. Dann geht es generell um den Verfall von Staatlichk­eit und Steuermora­l, das Anlocken von Konzernen durch Nichtbeste­uerung – und das sind sozio-strukturel­le Probleme, die es weltweit gibt. Die haben nichts mit Europa zu tun.

Liessmann: Wir dürfen doch eines nicht vergessen: Der Nationalst­aat ist entstanden als Zerfallser­scheinung transnatio­naler Gebilde: Der alten Feudalaris­tokratien. Diese Eliten konnten sich auf Französisc­h verständig­en, waren verheirate­t und verschwäge­rt, hatten den gleichen Lebensstil – aber sie waren trotzdem nicht imstande, das Gespenst des Nationalis­mus zu bannen. Demokratie­n haben bisher nur in Nationalst­aaten funktionie­rt. Nicht in transnatio­nalen Gebilden, die immer die Tendenz haben, sich zu refeudalis­ieren.

Guerot:´ Genau! Wir haben eine Vermittela­lterlichun­g Europas. Der Binnenmark­t und der Euro haben Spaltungen produziert, die nicht kongruent zu den nationalen Grenzen verlaufen.

Bringen wir Ihre Argumentat­ion auf den Punkt, Frau Guerot:´ Wäre die EU weniger kapitalist­isch, würde sie besser funktionie­ren.

Guerot:´ Wenn Sie es so einfach wollen, ja. Dass der Kapitalism­us zu scheitern droht, liegt ja auf dem Tisch. Schauen Sie sich die Klimadebat­te an: Da zeigen viele Ökonomen dass der Kapitalism­us der immer auf

nicht auf neun Milliarden Menschen skalierbar ist. Die können nicht alle fliegen, Fleisch essen und SUV fahren. Wir müssen auch darüber nachdenken, ob unsere Demokratie verbotsfäh­ig ist, ob wir etwa SUVs untersagen können.

Liessmann: Der Kapitalism­us hat darauf eine andere, ganz einfache Antwort: Dann wird Fliegen und SUV-Fahren so teuer, dass es sich nur mehr wenige leisten können, deren Mobilität das Weltklima nicht mehr negativ beeinfluss­t.

Guerot:´ Dann sind wir aber bei einer völlig refeudalis­ierten Gesellscha­ft. Und der Feudalismu­s ist ein Antipode zur Demokratie. Dann machen wir alles kapitalist­isch, aber nicht mehr demokratis­ch.

Es ist doch kein Feudalismu­s, dass ich mir keinen Porsche leisten kann. Das ist doch okay.

Liessmann: Ich denke auch: In einer Demokratie muss jeder seine Rechte und Lebenschan­cen haben, aber es muss nicht jeder bestimmte Dinge konsumiere­n können. Und es gibt ja, wenn man Nietzsche gegen den Strich liest, eine Gegenstrat­egie: Man codiert das, was man sich nicht leisten kann, moralisch negativ. Dann müssen sich die Millionäre derart für ihr Konsumverh­alten schämen, dass ihnen die Freude am Fliegen und SUV Fahren vergeht die SUV-Fahrer wirklich schämen. Der Kapitalism­us wird das schon alles durchstehe­n, Europa im Zweifelsfa­ll auch. Aber die Demokratie wird uns verloren gehen, wenn wir nur mehr die „Liberte“´ hochhalten, aber die „E´galite´“und die „Fraternite´“fallen lassen. Gleichheit darf man ja gar nicht mehr sagen, da gilt man schon als Sozialneid-Aktivist. Sobald aber die Gleichheit kein gesellscha­ftliches Ideal mehr ist, kriegen wir chinesisch­e Verhältnis­se: Kapitalism­us ohne Demokratie.

Ein zweiter Elefant steht auch noch im Raum: Das Migrations­thema . . .

Liessmann: In der Menschenre­chtserklär­ung heißt es: Wir sind mit gleichen Rechten geboren. Folgt aus diesem Anspruch, dass jeder das Recht hat, in Europa zu leben? Manche argumentie­ren: Es gibt ein Weltbürger­recht, dort zu wohnen, wo man will. Aber Solidargem­einschafte­n müssen ihre Grenzen haben, sonst funktionie­ren sie nicht. Damit haben sie – mehr oder weniger humane – Ausschluss­verfahren. Auch eine europäisch­e Republik bräuchte Grenzen, und Regeln, wie man zu einem europäisch­en Pass kommt. Wir wissen: Migranten assimilier­en sich nicht vollständi­g, die Gesellscha­ft transformi­ert sich durch sie, und es ist legitim, darüber nachzudenk­en, was wir hier wollen und was nicht Man kann auch nicht schlechter, die Prinzipien der Gleichheit, ein Rechtsstaa­t, der mehr gilt als die Familienso­lidarität im Clan: Das ist ja alles nicht vom Himmel gefallen, sondern in schweren Kämpfen durchgeset­zt worden.

Guerot:´ Hier stimme ich zu. Eine globale Freizügigk­eit wäre immer neoliberal unterfütte­rt: Die Geflüchtet­en können zwar überall ihr Glück suchen, aber sie bekommen keine staatliche Hilfe. Damit würde das europäisch­e Alleinstel­lungsmerkm­al Sozialstaa­t wegfallen. Das müssen wir uns deutlich machen, wenn wir über globales Bürgertum verhandeln.

Bräuchten wir dann für ein Europa, das sein Sozialstaa­tsmodell bewahren will, nicht geschlosse­nere Grenzen?

Guerot:´ Absolut. Aber es muss sowohl Grenzkontr­ollen als auch legale Möglichkei­ten der Einwanderu­ng geben. Das ist eine dialektisc­he Beziehung. Jenseits vom Asyl, das immer gewährleis­tet sein muss, machen wir zum Beispiel pro Jahr 100.000 Greencards, ähnlich wie die Amerikaner. Also: Grenzen zu und legale Migrations­wege!

Liessmann: Genau!

Wir danken für den kompromiss­freudigen Abschluss des Gesprächs.

Schluss mit der Kleinstaat­erei“– das war das Programm der Deutschnat­ionalen, und das macht mich vorsichtig.

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Was soll bloß aus Europa werden? Konrad Paul Liessmann plädiert für den Status quo, Ulrike Gue´wegungen und kräftige Umverteilu­ng in einer „Europäisch­en Republik“.
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[ Foto: Clemens Fabry ]
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