Die unmögliche Brexit-Einigung
Nach mehr als zwei Jahren erfolgloser Verhandlungen müssen die EU-Chefs nun entscheiden, ob die Briten zu Monatsende wirklich gehen.
Brüssel. Mehrfach verschobene ultimative Fristen; Verhandler, die sich unter totaler Nachrichtensperre einbunkern; Gerüchte, wonach in London ein Flugzeug startklar bereitsteht, um Premierminister Boris Johnson jeden Moment noch in der Nacht auf Donnerstag nach Brüssel zu bringen: Nach fast zweieinhalb Jahren ebenso detailreicher wie bisher erfolgloser Verhandlungen zwischen der Europäischen Union und dem Vereinigten Königreich über die Art und Weise, wie der Brexit vonstatten gehen soll, spitzte sich die Lage am Mittwoch zu.
Denn der politische Druck, dieses für beide Seiten zusehends leidige Thema zu beenden, ist mit Johnsons Amtsantritt stark gestiegen. „Lieber würde ich tot im Straßengraben liegen, als den Brexit hinauszuschieben“, hatte er Anfang September trotzig erklärt. In der klar erkennbaren Hoffnung darauf, die Durchsetzung des Austritts am 31. Oktober bei einer vorgezogenen Neuwahl in einen Triumph über die zögerliche Arbeiterpartei unter seinem Erzfeind Jeremy Corbyn umzumünzen, hatte Johnson die Zukunft der europäisch-britischen Beziehungen an sein persönliches politisches Schicksal gefesselt.
Drei dornige Streitfragen
Und so strengten sich die Verhandler unter Michel Barnier und David Frost seit Montag gehörig an, die Streitpunkte zu beseitigen und den Staats- und Regierungschefs für ihr Gipfeltreffen heute, Donnerstag, und Freitag eine fertige Einigung vorlegen zu können. Die jeweils als nun wirklich endgültig erklärte Frist wurde von Dienstag, Mitternacht, auf Mittwoch 14 Uhr, dann Mittwoch 17 Uhr, schließlich Mittwoch 19 Uhr verschoben. Um diese Uhrzeit sollte Barnier, der frühere französische Außenminister, EU-Kommissar und Brexit-Chefverhandler der EU, den EUBotschaftern das Ergebnis der Gespräche mit seinem britischen Gegenüber Frost präsentieren.
Zu Redaktionsschluss der „Presse“war weder bekannt, ob es eine Einigung gab, noch gegebenenfalls, welchen Inhalt sie hatte. In drei strittigen Fragen steckten die Verhandler bis zuletzt fest. Erstens: Wie genau soll das Entstehen einer Zollgrenze zwischen Irland und Nordirland verhindert werden? Aus den Verhandlungen war zwischenzeitig durchgesickert, dass die Briten nun einer Idee zugestimmt hätten, welche sie vor eineinhalb Jahren noch abgelehnt hatten: Nordirland solle so lang im Binnenmarkt und in der Zollunion mit der EU bleiben, bis sich eine dauerhafte anderweitige Lösung gefunden hat (also eine Versicherung, die bisher „Backstop“genannt wurde).
Logische Folge: Die Nordiren wären wirtschaftlich und regulatorisch näher an Dublin und Brüssel als an London. Das ist jedoch für die reaktionäre nordirische DUP inakzeptabel – und auf deren Stimmen im Parlament in Westminster war bisher die Mehrheit von Johnson und seiner Vorgängerin, Theresa May, angewiesen. Als am Dienstag Gerüchte zu kursieren begannen, die DUP werde sich mit milliardenschweren Förderungen aus London und Brüssel für Nordirland umstimmen lassen, grätschte DUP-Chefin Arlene Foster via Twitter quer: Alles Unfug, man schenke „Brüsseler Quellen“keinen Glauben.
„Für uns am besten: Fertig, und aus“
Zweite offene Frage, und sie ist mit der ersten verbunden: Soll das nordirische Parlament in Belfast über die Aufrechterhaltung des Backstop entscheiden können, und wenn ja, in welcher Form und wie oft? Dritte Frage: Wie lässt sich verhindern, dass die Briten nach vollendetem Brexit, dem eine Übergangsfrist bis 2020 folgen soll, vor Europas Haustür illoyale Konkurrenz betreiben, aber gleichzeitig aus einem Freihandelsvertrag mit der EU Nutzen ziehen?
Und selbst wenn die Verhandler all diese Fragen klären, schwebt ein Damoklesschwert über dieser Brexit-Einigung: Findet Johnson in Westminster eine Mehrheit dafür? Stoßseufzer eines europäischen Diplomaten: „Der für uns beste Deal wäre: Fertig, und aus.“