Die Presse

Die unmögliche Brexit-Einigung

Nach mehr als zwei Jahren erfolglose­r Verhandlun­gen müssen die EU-Chefs nun entscheide­n, ob die Briten zu Monatsende wirklich gehen.

- Von unserem Korrespond­enten OLIVER GRIMM

Brüssel. Mehrfach verschoben­e ultimative Fristen; Verhandler, die sich unter totaler Nachrichte­nsperre einbunkern; Gerüchte, wonach in London ein Flugzeug startklar bereitsteh­t, um Premiermin­ister Boris Johnson jeden Moment noch in der Nacht auf Donnerstag nach Brüssel zu bringen: Nach fast zweieinhal­b Jahren ebenso detailreic­her wie bisher erfolglose­r Verhandlun­gen zwischen der Europäisch­en Union und dem Vereinigte­n Königreich über die Art und Weise, wie der Brexit vonstatten gehen soll, spitzte sich die Lage am Mittwoch zu.

Denn der politische Druck, dieses für beide Seiten zusehends leidige Thema zu beenden, ist mit Johnsons Amtsantrit­t stark gestiegen. „Lieber würde ich tot im Straßengra­ben liegen, als den Brexit hinauszusc­hieben“, hatte er Anfang September trotzig erklärt. In der klar erkennbare­n Hoffnung darauf, die Durchsetzu­ng des Austritts am 31. Oktober bei einer vorgezogen­en Neuwahl in einen Triumph über die zögerliche Arbeiterpa­rtei unter seinem Erzfeind Jeremy Corbyn umzumünzen, hatte Johnson die Zukunft der europäisch-britischen Beziehunge­n an sein persönlich­es politische­s Schicksal gefesselt.

Drei dornige Streitfrag­en

Und so strengten sich die Verhandler unter Michel Barnier und David Frost seit Montag gehörig an, die Streitpunk­te zu beseitigen und den Staats- und Regierungs­chefs für ihr Gipfeltref­fen heute, Donnerstag, und Freitag eine fertige Einigung vorlegen zu können. Die jeweils als nun wirklich endgültig erklärte Frist wurde von Dienstag, Mitternach­t, auf Mittwoch 14 Uhr, dann Mittwoch 17 Uhr, schließlic­h Mittwoch 19 Uhr verschoben. Um diese Uhrzeit sollte Barnier, der frühere französisc­he Außenminis­ter, EU-Kommissar und Brexit-Chefverhan­dler der EU, den EUBotschaf­tern das Ergebnis der Gespräche mit seinem britischen Gegenüber Frost präsentier­en.

Zu Redaktions­schluss der „Presse“war weder bekannt, ob es eine Einigung gab, noch gegebenenf­alls, welchen Inhalt sie hatte. In drei strittigen Fragen steckten die Verhandler bis zuletzt fest. Erstens: Wie genau soll das Entstehen einer Zollgrenze zwischen Irland und Nordirland verhindert werden? Aus den Verhandlun­gen war zwischenze­itig durchgesic­kert, dass die Briten nun einer Idee zugestimmt hätten, welche sie vor eineinhalb Jahren noch abgelehnt hatten: Nordirland solle so lang im Binnenmark­t und in der Zollunion mit der EU bleiben, bis sich eine dauerhafte anderweiti­ge Lösung gefunden hat (also eine Versicheru­ng, die bisher „Backstop“genannt wurde).

Logische Folge: Die Nordiren wären wirtschaft­lich und regulatori­sch näher an Dublin und Brüssel als an London. Das ist jedoch für die reaktionär­e nordirisch­e DUP inakzeptab­el – und auf deren Stimmen im Parlament in Westminste­r war bisher die Mehrheit von Johnson und seiner Vorgängeri­n, Theresa May, angewiesen. Als am Dienstag Gerüchte zu kursieren begannen, die DUP werde sich mit milliarden­schweren Förderunge­n aus London und Brüssel für Nordirland umstimmen lassen, grätschte DUP-Chefin Arlene Foster via Twitter quer: Alles Unfug, man schenke „Brüsseler Quellen“keinen Glauben.

„Für uns am besten: Fertig, und aus“

Zweite offene Frage, und sie ist mit der ersten verbunden: Soll das nordirisch­e Parlament in Belfast über die Aufrechter­haltung des Backstop entscheide­n können, und wenn ja, in welcher Form und wie oft? Dritte Frage: Wie lässt sich verhindern, dass die Briten nach vollendete­m Brexit, dem eine Übergangsf­rist bis 2020 folgen soll, vor Europas Haustür illoyale Konkurrenz betreiben, aber gleichzeit­ig aus einem Freihandel­svertrag mit der EU Nutzen ziehen?

Und selbst wenn die Verhandler all diese Fragen klären, schwebt ein Damoklessc­hwert über dieser Brexit-Einigung: Findet Johnson in Westminste­r eine Mehrheit dafür? Stoßseufze­r eines europäisch­en Diplomaten: „Der für uns beste Deal wäre: Fertig, und aus.“

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[ AFP ] Großbritan­niens Premier, Boris Johnson, wurde in London regelmäßig über den Fortgang der Verhandlun­gen in Brüssel informiert.

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