Leitartikel von Michael Laczynski
Die Vorgängerin von Boris Johnson wurde wegen ihres Brexit-Kompromisses geschasst. Ihr Nachfolger wird für denselben Kompromiss gefeiert.
Die Feststellung, Theresa May sei keine begnadete Politikerin, ist weder neu noch überraschend. Das Bad in der Menge liegt ihr ebenso wenig wie das biergeschwängerte Stammtischgespräch im Pub ums Eck. Was May während ihrer Amtszeit als Premierministerin Großbritanniens an Lockerheit fehlte, machte sie allerdings mit Sturheit und Monomanie mehr als wett. Nichts brachte diese unflexible Geisteshaltung besser auf den Punkt als die gebetsmühlenartig wiederholte Tautologie „Brexit means Brexit“, mit der die Regierungschefin versucht hatte, sowohl die Gegner des Abschieds von Europa als auch die Befürworter eines knüppelharten EU-Austritts zu hypnotisieren.
In der Downing Street 10 verschanzt, von parteiinternen Rivalen belauert und von Westentaschen-Machiavellis beraten, brach May im Frühjahr 2017 eine Unterhauswahl vom Zaun, nur um ihre Parlamentsmehrheit zu verjuxen – und dieses Kunststück gelang ihr gegen den unreformierten Sozialisten Jeremy Corbyn. Mit ihrem allseits ungeliebten EU-Austrittsvertrag, den sie den Abgeordneten Anfang 2019 verschämt zur Abstimmung vorlegte, erlitt die Premierministerin die bis dato größte Niederlage einer Regierung in der Geschichte des britischen Parlamentarismus. Selbst als die glücklose Tory-Chefin ihren Parteikollegen den Rücktritt versprach, verweigerten ihr Dutzende Abgeordnete die Zustimmung zum BrexitDeal. Umfassender als Theresa May kann man in der Politik wohl kaum scheitern.
Aus dieser Perspektive betrachtet, mag Mays Fall zwar nachvollziehbar erscheinen – gerecht ist er deswegen noch lang nicht. Der Stellenwert der Gerechtigkeit in der Politik ist zugegebenermaßen nicht sonderlich hoch, doch angesichts der unglaublichen Irrungen und Wendungen im britischen Brexit-Drama sei ein Rückgriff auf dieses antiquierte ethische Konzept gestattet. Denn May wurde für einen Kompromiss geschasst, während Boris Johnson, ihr jovialer Nachlasswalter, für ebendiesen Kompromiss als Britanniens Heiland gehandelt wird.
Noch ist der einvernehmliche BrexitDeal nicht fix, doch seine Konturen, die sich hinter Johnsons outrierendem Schauspiel und all den theatralischen Drohungen vom Austritt ohne Wenn und Aber erkennen lassen, ähneln frappant dem Kernstück des ursprünglichen Deals zwischen May und der EU: einem Backstop, der Nordirland im regulatorischen Orbit der EU belässt, um die Wiedereinführung von Grenzkontrollen an der irisch-nordirischen Grenze zu verhindern. Dieser Backstop darf zwar nicht mehr Backstop heißen, doch de facto besteht er aus denselben Zutaten: nämlich einer engen Anbindung Nordirlands an den Binnenmarkt und die Zollunion der EU, unter Aufsicht des Europäischen Gerichtshofs.
Wie ist es möglich, dass Tories, die Mays Deal in der Luft zerrissen haben, nun jubilieren? Das hängt zum einen mit dem Charisma ihres Nachfolgers zusammen. Wäre Johnson nicht Premier, sondern Gebrauchtwagenhändler, könnte er jede Rostschüssel loswerden. Zum anderen sind viele Konservative vom Brexit übersättigt und wollen endlich einen Schlussstrich ziehen. Mays Fall erfüllt in diesem Zusammenhang die Rolle eines rituellen Opfers, das dem Götzen des europafeindlichen Populismus dargebracht wurde.
Dass eine spröde Pfarrerstochter geopfert wurde und nun ein Eleve des Elite-Internats Eton, der seine politische Karriere mit der Verbreitung von Unwahrheiten über die EU begonnen hatte, die Früchte ihrer Arbeit erntet, liegt in der Natur der Sache. Oft kommen Frauen in der Politik zum Zug, wenn es darum geht, die Scherbenhaufen wegzuräumen, die ihre (männlichen) Vorgänger angerichtet haben. May wurde auf den Schild gehoben, nachdem David Cameron, der Erfinder des Brexit-Referendums, nach der Niederlage schleunigst das Feld räumte. Und das war auch bei einer anderen Tochter eines Kirchenmanns namens Angela Merkel der Fall, die nach einer herben Wahlniederlage und dem unrühmlichen Abgang Helmut Kohls zur obersten Trümmerfrau der CDU ernannt wurde.
Nur dass Merkel, im Gegensatz zu May, eine begnadete Politikerin ist.