Die Presse

Wofür London mehr Zeit braucht

Selbst bei einer Einigung auf einen Brexit-Deal wird es kaum zu einer raschen Zustimmung im britischen Unterhaus kommen. Das letzte Mal dauerte es drei Monate, bis der Text geprüft war.

- Von unserem Korrespond­enten GABRIEL RATH

London. Je näher die Brexit-Verhandlun­gen zwischen der Londoner Regierung und dem EU-Verhandler­team an das unausweich­lichen Ende rücken, desto mehr achteten beide Seiten auf die Stimmung. „Wir befinden uns jetzt im Bereich des totalen Spins“, sagte die Verfassung­sexpertin Meg Russell gestern, Mittwoch, in London. Ziel beider Seiten sei es nicht nur, die andere Seite zu beeinfluss­en, sondern auch, die Erwartunge­n des eigenen Lagers zu steuern und zu kontrollie­ren.

Besonders für den britischen Premiermin­ister, Boris Johnson, bedeutet das eine gewaltige Herausford­erung: Seit Monaten verkündet er, dass er sein Land am 31. Oktober 2019 „um jeden Preis“aus der EU führen werde. Nun scheint selbst in der Downing Street die so abgelehnte Verlängeru­ng unausweich­lich. Statt in Brüssel am Verhandlun­gstisch zu ringen, musste gestern BrexitMini­ster Stephen Barclay im Parlament erstmals einräumen, dass die Regierung bei Ausbleiben einer Einigung um eine Verlängeru­ng ansuchen werde. „Wir werden diesen Text erfüllen“, sagte er unter Hinweis auf ein entspreche­ndes Gesetz.

Selbst bei einem Durchbruch der Verhandler gingen Beobachter und Experten nämlich davon aus, dass für eine umfassende, rechtswirk­same Einigung auf einen vollständi­gen Brexit-Vertrag nicht mehr genug Zeit bliebe. „Als wir das letzte Mal in einer vergleichb­aren Position waren (unter Premiermin­isterin Theresa May, Anm.), dauerte es drei Monate, bis alle Seiten den Text übersetzt und geprüft hatten“, erinnert Simon Usherwood, Politologe an der University of Surrey.

Großes Misstrauen

Innenpolit­isch ist eine schnelle Verabschie­dung einer Vereinbaru­ng dadurch blockiert, dass „ein noch nie dagewesene­r Zusammenbr­uch des Vertrauens zwischen den Parteien und innerhalb der Parteien herrscht“, wie Usherwood meint. Keine Seite werde daher auf eine sorgfältig­e Prüfung verzichten. Selbst nach Milliarden­versprechu­ngen von Premier Johnson erklärte Arlene Foster als Vertreteri­n der nordirisch­en Unionisten­partei DUP – ein entscheide­nder Faktor im Ringen um eine Vereinbaru­ng – kühl: „Ich vertraue niemandem. Die einzige Person, der ich traue, bin ich selbst.“

Sollte Johnson aber vom Gipfel in Brüssel mit einer Einigung nach Hause kommen und dafür das Parlament am Samstag zu einer Sondersitz­ung zusammentr­ommeln, hat er bei Weitem keine Gewissheit, für sein Abkommen eine Mehrheit zu bekommen. Der Politologe Tim Bale identifizi­ert vier Gruppen, auf die es ankommen könnte: Die Abgeordnet­en der DUP, Brexit-Ultras unter den Konservati­ven, Labour-Mandatare aus Brexit-Bezirken und von Johnson aus der Partei ausgeschlo­ssene Konservati­ve. Obwohl der Premier eine Minderheit von 45 Stimmen hat, meint Bale: „Es ist knapp, aber machbar.“Das Verhandeln bis zur letzten Sekunde diene mittlerwei­le vor allem der Verhinderu­ng eines Gesichtsve­rlusts von Johnson: „Wenn er jetzt sagt, er brauche noch drei Monate technische Verlängeru­ng, nehmen ihm das seine Wähler ab. Bei sechs Monaten hat er ein Problem.“

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