Wofür London mehr Zeit braucht
Selbst bei einer Einigung auf einen Brexit-Deal wird es kaum zu einer raschen Zustimmung im britischen Unterhaus kommen. Das letzte Mal dauerte es drei Monate, bis der Text geprüft war.
London. Je näher die Brexit-Verhandlungen zwischen der Londoner Regierung und dem EU-Verhandlerteam an das unausweichlichen Ende rücken, desto mehr achteten beide Seiten auf die Stimmung. „Wir befinden uns jetzt im Bereich des totalen Spins“, sagte die Verfassungsexpertin Meg Russell gestern, Mittwoch, in London. Ziel beider Seiten sei es nicht nur, die andere Seite zu beeinflussen, sondern auch, die Erwartungen des eigenen Lagers zu steuern und zu kontrollieren.
Besonders für den britischen Premierminister, Boris Johnson, bedeutet das eine gewaltige Herausforderung: Seit Monaten verkündet er, dass er sein Land am 31. Oktober 2019 „um jeden Preis“aus der EU führen werde. Nun scheint selbst in der Downing Street die so abgelehnte Verlängerung unausweichlich. Statt in Brüssel am Verhandlungstisch zu ringen, musste gestern BrexitMinister Stephen Barclay im Parlament erstmals einräumen, dass die Regierung bei Ausbleiben einer Einigung um eine Verlängerung ansuchen werde. „Wir werden diesen Text erfüllen“, sagte er unter Hinweis auf ein entsprechendes Gesetz.
Selbst bei einem Durchbruch der Verhandler gingen Beobachter und Experten nämlich davon aus, dass für eine umfassende, rechtswirksame Einigung auf einen vollständigen Brexit-Vertrag nicht mehr genug Zeit bliebe. „Als wir das letzte Mal in einer vergleichbaren Position waren (unter Premierministerin Theresa May, Anm.), dauerte es drei Monate, bis alle Seiten den Text übersetzt und geprüft hatten“, erinnert Simon Usherwood, Politologe an der University of Surrey.
Großes Misstrauen
Innenpolitisch ist eine schnelle Verabschiedung einer Vereinbarung dadurch blockiert, dass „ein noch nie dagewesener Zusammenbruch des Vertrauens zwischen den Parteien und innerhalb der Parteien herrscht“, wie Usherwood meint. Keine Seite werde daher auf eine sorgfältige Prüfung verzichten. Selbst nach Milliardenversprechungen von Premier Johnson erklärte Arlene Foster als Vertreterin der nordirischen Unionistenpartei DUP – ein entscheidender Faktor im Ringen um eine Vereinbarung – kühl: „Ich vertraue niemandem. Die einzige Person, der ich traue, bin ich selbst.“
Sollte Johnson aber vom Gipfel in Brüssel mit einer Einigung nach Hause kommen und dafür das Parlament am Samstag zu einer Sondersitzung zusammentrommeln, hat er bei Weitem keine Gewissheit, für sein Abkommen eine Mehrheit zu bekommen. Der Politologe Tim Bale identifiziert vier Gruppen, auf die es ankommen könnte: Die Abgeordneten der DUP, Brexit-Ultras unter den Konservativen, Labour-Mandatare aus Brexit-Bezirken und von Johnson aus der Partei ausgeschlossene Konservative. Obwohl der Premier eine Minderheit von 45 Stimmen hat, meint Bale: „Es ist knapp, aber machbar.“Das Verhandeln bis zur letzten Sekunde diene mittlerweile vor allem der Verhinderung eines Gesichtsverlusts von Johnson: „Wenn er jetzt sagt, er brauche noch drei Monate technische Verlängerung, nehmen ihm das seine Wähler ab. Bei sechs Monaten hat er ein Problem.“