Das Schweigen der Angeklagte
Immer öfter halten Strafverteidiger ihre Klienten dazu an, gar nichts zu sagen. Weshalb dürfen sie das? Wem nützt das?
Wien. „Und wo ist mein Gold?“Es war ein spektakulärer Prozess, vor Kurzem in Wien. Eine Pensionistin, der 20 Kilogramm Gold gestohlen worden waren, hatte sich nach dem Verbleib ihres Schatzes erkundigt. Die Richterin hatte diese zentrale Frage aber gar nicht gestellt. Der Staatsanwalt auch nicht. Und wie verhielt sich der Angeklagte? Er schwieg. Auf Geheiß seines Anwalts.
Das neue Phänomen des schweigenden Angeklagten ist der Justiz wohl bekannt. Doch mittlerweile ist das Schweigen zum Trend geworden. „Zu einem wirklichen Trend“, wie Philipp Wolm, einer der bekanntesten Wiener Strafverteidiger, bestätigt. Das Recht zu schweigen – es steht Verdächtigen selbstverständlich zu. Gemäß einem alten Grundsatz, der auch in der Strafprozessordnung festgeschrieben ist: Niemand ist verpflichtet, sich selbst zu belasten (Nemo tenetur se ipsum accusare).
Aber: Konnte man einen gezielten, ja strategischen Einsatz des Schweigerechts früher nur sehr selten beobachten, so gilt diese Art der Verteidigung mittlerweile als gängige Option. „Ein solches Vorgehen ist mittlerweile auch salonfähig geworden und aus Gerichtssälen nicht mehr wegzudenken“, erklärt Wolm.
Vorbild Karl-Heinz Grasser
Warum macht man das? Vergibt man dadurch als Beschuldigter nicht die Möglichkeit, sich selbst möglichst gut darzustellen? Doch. Aber nicht jeder Angeklagter kann so gut reden wie Karl-Heinz Grasser im BuwogProzess (wobei: Selbst Grasser setzt sein Schweigerecht partiell ein, er redet nicht mit den Staatsanwälten). Vielen Beschuldigten mangelt es an Deutschkenntnissen und eben an der Fähigkeit, sich auszudrücken – Letztere wird auch durch den Einsatz von Dolmetschern nicht wettgemacht.
Davon kann der routinierte Wiener Anwalt Nikolaus Rast ein Lied singen. Er ist seit 21 Jahren im Geschäft. Derzeit gehören um die 25 U-Häftlinge zu seinen Klienten. Der Ausländeranteil dieser Gruppe: hundert Prozent. „Das war früher anders“, weiß Rast. Für Personen dieses Kreises ist es mitunter ratsam, ein Geständnis abzulegen – und dann das Recht zu schweigen in Anspruch zu nehmen.
Manchmal besteht ein erhöhtes Risiko, dass sich jemand – nach dem Geständnis – in eine Sackgasse redet. „Und am Ende ist es dann kein reumütiges Geständnis mehr“, erläutert Rast. Die negative Folge: Der Milderungsgrund „Geständnis“fällt beim Ausmessen der Strafe weg.
Auch Wolm meint: „Oft empfiehlt es sich, den Beschuldigten nach dem Motto ,Reden ist Silber, Schweigen ist Gold‘ zu verteidigen. Eine unüberlegte Aussage wird rasch zu einem belastenden Beweismittel gegen sich selbst.“
Es gibt weitere gute Schweigegründe. Etwa das Vermeiden eines großen Zeugenaufmarschs. Ein solcher könnte für den Angeklagten nachteilig sein. Ein Beispiel dafür lieferte ein jüngst über die Bühne gegangener Prozess gegen zwei Räuber, die gehbehinderte Pensionistinnen auf offener Straße überfallen haben. Das Duo war von seinen Anwälten auf das große Schweigen gepolt worden. Dementsprechend gaben
die beiden 22-Jährigen alles zu, entschuldigten sich, sagten aber dann kein Wort mehr. Der Vorteil: Durch die umfassenden Geständnisse waren langwierige Befragungen der Opfer nicht mehr notwendig. Es wäre nicht im Sinn der Verteidigung gewesen, wenn betagte Frauen die Qualen der Überfälle in allen Details vorgetragen hätten.
Es gibt für Beschuldigte freilich auch die Kampfvariante des Schweigens: nichts gestehen und nichts sagen. Dies kommt aber nur ziemlich selten vor.
„Wichtig, alles zu hinterfragen“
Der Vizepräsident der Staatsanwältevereinigung, Bernd Ziska, sieht das Ganze ambivalent: „Im Sinn der Wahrheitsfindung ist es wichtig, alles zu hinterfragen, auch Geständnisse; insbesondere dann, wenn auch nur der geringste Zweifel an der Richtigkeit der Aussage besteht.“Andererseits: „Es liegt auf der Hand, dass ein reumütiges Geständnis in der Regel eine Verhandlung deutlich verkürzt.“
Dass es für die Justiz bequem ist, wenn ein Beschuldigter alles vorauseilend zugibt, zeigte unlängst ein Prozess um den Verkauf von Aufenthaltstiteln durch einen früheren Mitarbeiter des Wiener Magistrats. Der Angeklagte sagte: „Ich bekenne mich vollkommen schuldig“, und die Richterin verzichtete auf eine Erörterung der Vorkommnisse, obwohl der frühere Beamte gar nicht angekündigt hatte, die Aussage zu verweigern.
So einfach sei die Sache aber nicht, warnt der Obmann der Fachgruppe Strafrecht der Richtervereinigung, zugleich Präsident des Straflandesgerichts Wien, Friedrich Forsthuber. Eine Aussage sei schließlich „ein Puzzleteil bei der Wahrheitsfindung“. Und: „Ein Richter muss prüfen, ob das Geständnis mit den übrigen Beweisergebnissen zusammenpasst.“Aber Forsthuber hat auch Verständnis dafür, wenn jemand lieber nichts sagt, „denn er könnte sich um Kopf und Kragen reden“. Und ja, das Schweigen der Angeklagten habe zuletzt zugenommen.
Also: Wo sind nun die gestohlenen Goldbarren geblieben? Das bleibt weiter im Dunkeln. Trotz des Geständnisses des Diebs, der dann aber dem Opfer die Antwort auf diese zentrale Frage verwehrte. Der Verteidiger lieferte in diesem Prozess einen weiteren Grund für rhetorische Enthaltsamkeit: Sein Klient fürchte sich vor den noch nicht gefassten Hintermännern des Coups. Er schweige, „denn er hat Angst um sein Leben“.