„Die klerikale Obrigkeit wusste, was er trieb“
Im Missbrauchsskandal um den französischen Priester Bernard Preynat steht manches Urteil noch aus. Fran¸cois Ozon gibt in seinem Drama „Grˆace `a Dieu“den Opfern eine Stimme und zeigt auf, wie Verdrängung in der Kirche abläuft.
Seit 2016 erschüttert ein schwerer Missbrauchsskandal Frankreichs katholische Kirche: Philippe Barbarin, Erzbischof von Lyon, wird Vertuschung einschlägiger Vergehen des Priesters Bernard Preynat vorgeworfen. Nicht zuletzt auf Druck eines Opfervereins musste er sich vor Gericht verantworten und sein Amt im Juni ruhend stellen. Regie-Tausendsassa Francois¸ Ozon hat die Aufdeckung des Falls in ungewohnt nüchterner Manier verfilmt. Beinahe wäre das brisante Drama mit dem deutschen Titel „Gelobt sei Gott“verboten worden.
Die Presse: Filme nach wahren Begebenheiten erscheinen meist post factum. „Graceˆ a` Dieu“feierte Berlinale-Premiere, als betreffende Gerichtsverfahren noch liefen. Wie haben Sie das geschafft? Francois¸ Ozon: Manchmal frage ich mich das auch. Vielleicht war ich zu unbedarft?
Hatten Sie keine Angst, in rechtliche Bredouillen zu kommen? Der Täter hat aus seinem Missbrauch nie ein Hehl gemacht, und die klerikale Obrigkeit wusste sehr wohl, was er trieb. Aus juristischer Sicht mag es strittig sein, die Dinge beim Namen zu nennen, doch das hat mich wenig bekümmert. Mir ging es um die menschlichen Aspekte, den Augenblick, in dem jemand den Mut findet, einen Missstand anzuprangern.
Die Produktion des Films wurde lang geheim gehalten. Unser Arbeitstitel lautete „Alexandre“, nach einer der Hauptfiguren. „Graceˆ a` Dieu“hätte als Anspielung auf eine Äußerung des Kardinals Philippe Barbarin zu viel Aufsehen erregt. Er meinte bei einer Pressekonferenz, dass die Vergehen Bernard Preynats „Gott sei Dank“schon verjährt seien. Das ging durch alle Medien: Jedem wäre klar gewesen, wovon unser Film handelt.
„Graceˆ a` Dieu“hat eine ungewöhnliche Erzählform, wechselt dreimal die Perspektive. Diese Staffellaufstruktur kommt im Kino selten vor. Nach 45 Minuten verschwindet die Hauptfigur, eine andere rückt nach: Schon Hitchcock hatte bei „Psycho“Schwierigkeiten, das durchzusetzen. Auch meine Produzenten waren zunächst nervös. Mir ging es um den Dominoeffekt: wie Vorreiter ihre Mitmenschen inspirieren.
Bei seiner Premiere wurde Ihr Film oft mit dem Oscargewinner „Spotlight“verglichen, der von der Aufdeckung eines Missbrauchsskandals in Boston handelt. Auch für die Opfer war der Film ein Referenzpunkt. Vor dem Dreh meinte ein Betroffener zu mir: Oh, sie drehen die französische Fassung von „Spotlight“, toll! Eine Szene aus „Graceˆ a` Dieu“spielt in einem Polizeihauptquartier, wo ein Poster des Films zu sehen ist – das hing dort auch in Wirklichkeit! Es war quasi unser Glücksbringer.
Sie zeigen auch, wie sich nach anfänglicher Euphorie Bruchlinien durch den aktivistischen Opferverein ziehen. Ich wollte das nicht ausblenden. Wie alle vergleichbaren Bewegungen war „La Parole liber´ee“´ anfangs von starkem Zusammenhalt geprägt. Doch irgendwann scheinen Differenzen durch: Widersprüchliche Weltbilder, Klassenunterschiede, Konflikte um Kommunikationsstrategien. Das ist bei den Gelbwesten nicht anders. Ist der Katholizismus in Frankreich wirklich so blind für Missbrauch, wie Ihr Film es darstellt? Kommt darauf an. Es gibt Reaktionäre, die Tatsachen nicht anerkennen. Aber auch viele Katholiken, die sich über diesen Film gefreut haben: Sie wollen, dass die Kirche sich endlich vom Stigma des Missbrauchs befreit. Doch „Graceˆ a` Dieu“spielt in Lyon, einer sehr traditionellen, bürgerlich katholischen Stadt, der Wiege vieler Kircheninstitutionen Frankreichs. Die Macht des alten Klerus ist dort stärker als anderswo.
Die Geistlichen in Ihrem Film versuchen zum Teil, Homosexualität und Pädophilie in einen Topf zu werfen. Das ist ein Grundsatzproblem der heutigen Kirche. Man merkt zwar, dass das Bewusstsein für Missbrauchsfälle steigt, auch der Papst hat sich dazu geäußert. Aber bis vor Kurzem war Kindesmissbrauch ein Problem unter vielen, gleichwertig mit „Sünden“wie Homosexualität oder Ehebruch. Das ist ein Skandal. Viele Kleriker verstehen den Ernst der Lage immer noch nicht, können die privaten und gesellschaftlichen Konsequenzen von Missbrauch in ihrer abgeschlossenen Welt einfach nicht nachvollziehen.
Wie haben die Opfer auf Ihren Film reagiert? Sie haben mir Details anvertraut, die sie der Presse nie erzählt hatten. Ich fühlte mich enorm verantwortlich und fürchtete, das Endergebnis würde sie schockieren – doch am Ende waren sie sehr berührt. Am schönsten fand ich die Anmerkung, ich selbst sei die vierte Hauptfigur des Films. Alexandre ist der Anführer der Aktivisten, Francois¸ der PR-Mann, Manuel vertritt das Rechtssystem – und ich bin in ihren Augen derjenige, der dem Ganzen künstlerisch Ausdruck verleiht.