Die Presse

Bei E-Mobilität geht der Verstand flöten

Wenn das Recht der Technik nicht folgen kann – oder warum sich das Chaos im öffentlich­en Raum ausbreitet.

- VON HELMUT KNOFLACHER (* 1940) ist Verkehrswi­ssenschaft­ler und als Berater tätig.

Wenn das Recht der technische­n Entwicklun­g nicht mehr folgen kann, wie das seit einigen Jahren im Straßenver­kehr der Fall ist, darf man sich nicht wundern, wenn sich im öffentlich­en Raum das Chaos ausbreitet. In Großstädte­n ist es schon so weit, und in absehbarer Zeit wird sich die Willkür auch auf den Rest des Landes ausbreiten. Es begann mit den Elektrofah­rrädern, und noch bevor die Verkehrspo­litik begriffen hatte, wie damit umzugehen sei, brach die Welle der E-Scooter in den öffentlich­en Raum ein, ohne dass dieser dafür geeignet war. Die Behörden versagten, insbesonde­re das zuständige Ministeriu­m für Verkehr, Innovation und Technologi­e einschließ­lich des Ministers.

Städte und Gemeinden waren überforder­t und versuchten durch Befragunge­n über Mehrheitsm­einung Lösungen zu finden. Dabei geht es nicht um Meinungset­hik, sondern um Rechtssich­erheit und Verantwort­ung. Das mühsam aufgebaute Ordnungssy­stem gegen die Willkür der Schnellen und Stärkeren wurde schon mit den Elektroaut­os durchlöche­rt, indem man ihnen die Mitbenutzu­ng der Busspuren, reserviert­e kostenlose Parkplätze und andere Privilegie­n einräumte. Der Grund für Sonderspur­en für den öffentlich­en Verkehr liegt in seiner um Zehnerpote­nzen höheren Flächeneff­izienz gegenüber dem Auto, egal welcher Antriebsen­ergie. Wenn es um E-Mobilität geht, scheint der Verstand ausgeschal­tet zu werden.

Noch absurder ist der Umgang mit elektrifiz­ierten Zweirädern. Das Kraftfahrg­esetz wird einfach außer Kraft gesetzt – und man weiß nicht weiter. Wird ein Kraftfahrz­eug rechtlich nicht als Kraftfahrz­eug behandelt, erzeugt dies Probleme verschiede­nster Art, von der Unfallhäuf­ung bis zur Erhöhung der Schwere der Unfälle. Im Kraftfahrg­esetz (KFG) sind die grundlegen­den Bestimmung­en über die technische­n Eigenschaf­ten der Fahrzeuge, ihre Genehmigun­g und ihre Zulassung zum Verkehr festgelegt: „1) Im Sinn dieses Bundesgese­tzes gilt als Kraftfahrz­eug ein zur Verwendung auf Straßen bestimmtes oder auf Straßen verwendete­s Fahrzeug, das durch technisch freigemach­te Energie angetriebe­n wird und nicht an Gleise gebunden ist“und weiter: „2) Von der Anwendung [. . .] sind ausgenomme­n: Kraftfahrz­euge mit einer Bauartgesc­hwindigkei­t von nicht mehr als zehn km/h und mit solchen Kraftfahrz­eugen gezogene Anhänger . . .“

Rechtlich eigentlich eine klare Sache: E-Zweiräder haben einen Motor und werden durch „technisch freigemach­te Energie angetriebe­n“, sind daher lauf KFG Kraftfahrz­euge. Die Bauartgesc­hwindigkei­t ist noch zu klären: Bei den E-Bikes liegt diese weit über zehn km/h, und die Messungen der Geschwindi­gkeiten von E-Scootern beweisen, dass sie diesen Wert locker überschrei­ten. In den Angaben einzelner Hersteller findet man Werte bis zu 35 km/h. Beide Arten der E-Zweiräder sind nach geltendem Recht also Kraftfahrz­euge und daher als solche zu behandeln. Die vorherige StVO-Novelle und die letzte vom 1. Juni 2019 eröffnen mit der Befreiung von Versicheru­ng und Kennzeiche­npflicht bis 25 km/h und 600 Watt eine breites Risikofeld mit kaum wirksamer Kontrolle. Wer haftet bei Unfällen, die sich häufen?

Noch eine Anmerkung zum Fahrrad: Der Radverkehr bewegt sich in „reifen Fahrradges­ellschafte­n“mit Geschwindi­gkeiten von rund zwölf bis 15 km/h. E-Zweiräder sind meist schneller, weil zu den 100 Watt Leistung des Menschen der Motor die dreifache Leistung und mehr hinzufügt, und das bei einem Mehrgewich­t von sieben bis neun Kilogramm. Trotz aller Liebe zum Zweirad: Ideologie kann die Gesetze der Physik nicht aushebeln und auch nicht die Verantwort­ung des Gesetzgebe­rs und der Exekutive.

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