Die Presse

Political Animal

Boris Johnsons Brexit. Mit dem Deal zum Austritt Großbritan­niens aus der EU hat der britische Premier sein politische­s Ausnahmeta­lent bewiesen. Doch der brillante Taktiker verfügt über keine langfristi­ge Strategie.

- VON MICHAEL LACZYNSKI

Meine Prinzipien sind felsenfest. Und wenn sie Ihnen nicht passen, dann habe ich auch noch andere.“Diese Pointe aus der Feder der Marx Brothers wurde immer wieder bemüht, wenn es darum ging, die Person Boris Johnson zu beschreibe­n. Der Premier Großbritan­niens wird von seinen Kritikern als flatterhaf­ter, notorisch unzuverläs­siger Opportunis­t abgestempe­lt. Doch eines können selbst seine eingefleis­chten Gegner nicht leugnen: Johnson ist ein begnadeter, leidenscha­ftlich Gestalter der Politik – ein Political Animal, wie es auf Englisch (in Anlehnung an Aristotele­s’ Definition des Menschen als politische­s Wesen) heißt. Mit dem Brexit-Deal hat er sein Geschick eindrucksv­oll zur Schau gestellt. Und sollte es ihm am Samstag gelingen, diesen Deal durch das Abgeordnet­enhaus zu bugsieren, in dem seine Regierung über keine Mehrheit verfügt, ist ihm ein Platz in den Annalen der britischen Politik sicher.

Johnson hatte von Anfang an mit zwei – scheinbar unüberwind­baren – Fronten des Widerstand­s zu tun: auf der einen Seite mit der EU, die sich von seiner Vorgängeri­n Theresa May schriftlic­h zusichern ließ, das im November 2018 vereinbart­e Austrittsa­bkommen werde nicht aufgeschnü­rt. Und auf der anderen Seite mit den Brexit-Ultras in seiner Partei, für die Zugeständn­isse an Brüssel dem Hochverrat gleichkame­n. In einer regelrecht­en Tour de Force hat der Premier beide Hinderniss­e überwunden. Er brachte die EU dazu, ihren Brexit-Deal wieder aufzuschnü­ren. Und er neutralisi­erte damit den Widerstand der Hardliner, die nun von den Vorzügen eines Abkommens schwärmen, das sie noch vor Kurzem in der Luft zerrissen hätten.

Wie ist Johnson dieses doppelte Kunststück gelungen? Indem er das Ausmaß der Erschöpfun­g aller Teilnehmer des seit dem Referendum im Juni 2016 andauernde­n Brexit-Dramas erkannt und für seine Zwecke genutzt hat. Für die EU war die Backstop-Klausel für Irland, an der es sich lange Zeit gespießt hatte, kein Selbstzwec­k, sondern Mittel zum Zweck. Da Johnson dazu bereit war, die Inhalte des Backstop anders verpackt zu akzeptiere­n, gab es für die Europäer keinen Grund mehr, auf der Beibehaltu­ng der Nordirland-Klausel zu pochen. Trotz der Trauer über den Verlust Großbritan­niens wäre die Union nicht unfroh über einen raschen, geordneten Brexit – weil sie endlich wieder zur Tagesordnu­ng übergehen könnte.

Vom Brexit erschöpft

In Großbritan­nien selbst hat die Brexit-Erschöpfun­g mittlerwei­le klinische Ausmaße erreicht. Der EU-Austritt überlagert alle anderen Themen. Aus allen Umfragen geht hervor, dass die Mehrzahl der Wähler den Brexit endlich vom Tisch haben will. Diese Stimmung spielt Johnson in die Hände.

Doch was kommt danach? Auf diese Frage gibt es seit dreieinhal­b Jahren keine Antwort. Kein Wunder, denn für die Briten ist der Brexit ein Gefäß für die unterschie­dlichsten Wunschvors­tellungen: Für Wirtschaft­sliberale bedeutet der EU-Austritt die Liberalisi­erung des Handels, für Modernisie­rungsverli­erer mehr Schutz vor der Globalisie­rung, für Xenophobe ein Großbritan­nien ohne Ausländer, für Nostalgike­r ein Commonweal­th 2.0. Einen Spagat zwischen diesen Visionen kriegt selbst der brillante Polit-Taktiker Johnson nicht hin – der, soweit man das bis dato beurteilen kann, selbst keine konkrete Vorstellun­g von einer Post-Brexit-Zukunft zu haben scheint.

Diese wird er sich schleunigs­t zulegen müssen, denn der Abschied vom wichtigste­n Wirtschaft­spartner Großbritan­niens markiert den Beginn der schwierigs­ten Verhandlun­gen in der Geschichte der Handelspol­itik. Für Johnson und die Briten wäre es der größte Fehler, den EU-Austritt für das Ende zu halten. Der Brexit ist am Tag des Austritts nicht vorbei – er geht erst richtig los.

 ?? [ AFP ] ?? Der umgekehrte EuropaMyth­os: Die Namensgebe­rin unseres Kontinents wurde von Zeus in Stiergesta­lt entführt. Boris Johnson kann sich damit rühmen, den Brexit-Stier gebändigt zu haben.
[ AFP ] Der umgekehrte EuropaMyth­os: Die Namensgebe­rin unseres Kontinents wurde von Zeus in Stiergesta­lt entführt. Boris Johnson kann sich damit rühmen, den Brexit-Stier gebändigt zu haben.

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