Reportage aus Nordsyrien
Nordsyrien. Nach anfänglicher Freude über eine Waffenruhe kehrt bei den Kurden Skepsis ein. Die Kurden, die Türkei und auch die USA interpretieren das Abkommen von Ankara unterschiedlich. In Ras al-Ain wurde am Freitag weiter gekämpft.
Nach anfänglicher Freude über eine Waffenruhe kehrt bei den Kurden Skepsis ein.
Knatternde Gewehrsalven, wehende Fahnen und Autokorsos – die Begeisterung war zunächst unbeschreiblich, als die Waffenruhe in Nordsyrien bekannt wurde. Zu Tausenden gingen die Menschen in Städten und Dörfern spontan auf die Straßen, um das Ende der türkischen Invasion zu bejubeln.
„Wir sind überglücklich“, sagte Bashir Hassakeh, der gerade beim Fleischhauer am Assyrischen Kirchenplatz in der Stadt Hassakeh eingekauft und dort die Nachricht im Fernsehen gehört hatte. „Wir hatten viele Jahre Krieg und den IS besiegt, Gott sei Dank ist nun auch die türkische Invasion vorbei.“
Doch so schnell, wie viele zunächst hofften, dürfte nicht Frieden im Norden Syriens einkehren. Zwar haben die USA und die Türkei am Donnerstagabend eine Waffenruhe für die Region vereinbart, und die kurdische Seite hat dem grundsätzlich zugestimmt. Zugleich werden die Bestimmungen des Abkommens offenbar unterschiedlich interpretiert. Und am Freitag gingen die Gefechte zunächst zum Teil weiter.
Am 9. Oktober starteten die Türkei und ihre überwiegend islamistischen Hilfstruppen der syrischen Rebellen eine Offensive gegen Nordsyrien. Ankara wollte die kurdische Miliz YPG zerschlagen und eine Sicherheitszone einrichten. US-Präsident Donald Trump hatte der Türkei durch den Abzug der US-Soldaten grünes Licht dafür gegeben. Mehr als 200 Zivilisten wurden bisher durch Bombenangriffe getötet und mehr als 600 verletzt, wie der Kurdische Rote Halbmond berichtet. Die Türkei und ihre Freischärler rückten über die Grenzstädte Tal Abyad und Ras al-Ain vor. In der Not rief Nordsyrien das syrische Regime von Bashar al-Assad zu Hilfe, das einige Tausend Soldaten entsandte.
„Wir kämpfen weiter“
„Jetzt ist zwar die Bedrohung durch die Türkei zu Ende“, hofft der 35-jährige al-Hassakeh im kleinen Fleischhauerladen. „Aber jetzt machen wir uns große Sorgen wegen des syrischen Regimes.“Denn es habe, so der Lehrer, die Kurden und alle anderen Minderheiten unterdrückt. „Wir müssen unsere Rechte auf unsere Kultur und Sprache behalten, aber wie soll das mit dem Regime gehen?“
„Wir kämpfen weiter“, ruft ein kurdischer Soldat, der vor der Tür auf dem Gehsteig steht. „Wir können uns nur auf uns selbst verlassen und dürfen nicht aufgeben.“Dann schießt er mit seiner Kalaschnikow lachend eine Salve unter ohrenbetäubendem Lärm in den Nachthimmel. Auf dem Kirchplatz ist der Verkehr mittlerweile völlig zum Erliegen gekommen.
Weit weniger euphorisch sind offizielle Vertreter Nordsyriens. Salih Muslim, ein altgedienter Politiker Nordsyriens, meinte in einem ersten Statement: „Eine Waffenruhe ist ein Sache, aber eine totale Kapitulation ist etwas anders.“
Der türkische Präsident, Recep Tayyip Erdogan,˘ und seine Berater hatten ihren Ohren nicht getraut, als US-Vizepräsident Mike Pence am Donnerstagabend in Ankara seinen Plan vorgelegt hatte. Denn darin waren alle wichtigen Forderungen der Türkei erfüllt. Am Tag danach zeigte sich allerdings, dass die Türken die Vereinbarung in wichtigen Punkten ganz anders auslegen als die Amerikaner.
Laut dem 13-Punkte-Plan von Ankara soll die Türkei ihre „Sicherheitszone“in Nordsyrien bekommen, während sich die USA verpflichten, die Kurdenmiliz YPG zum Rückzug zu bewegen. Nach fünf Tagen Kampfpause soll die Türkei mit der Aufhebung der erst vor wenigen Tagen erlassenen USSanktionen belohnt werden.
Trotz der Vereinbarung wurde am Freitag weiterhin geschossen. Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte meldete Gefechte in Ras al-Ain. Ankaratreue syrische Milizionäre stoppten demnach auch einen Konvoi des Kurdischen Roten Halbmonds und einer US-Organisation, mit dem Verwundete aus Ras al-Ain geholt werden sollten. Auch die YPG warf der Türkei Verletzungen der Waffenruhe vor. Erdogan˘ sagte dagegen, Berichte über anhaltende Gefechte seien „Desinformation“.
Die Türkei beansprucht als „Sicherheitszone“das gesamte syrische Grenzgebiet vom Euphrat im Westen bis zur irakischen Grenze im Osten – eine Strecke von genau 442 Kilometern, wie Erdogan˘ am Freitag bekräftigte. Washingtons Vorstellungen unterscheiden sich davon aber offenbar drastisch: Der US-Syrien-Gesandte James Jeffrey sagte vor mitreisenden Journalisten, die Türkei dürfe zwar 30 Kilometer weit nach Syrien vorrücken, allerdings nur im „zentralen Teil des Nordostens“– nämlich zwischen den umkämpften syrischen Städten Ras al-Ain und Tal Abyad.
Skepsis bei kurdischen Kräften
Auch der kurdische Milizkommandant Mazlum Abdi sagte, man akzeptierte das Abkommen nur für das Gebiet zwischen den beiden Städten. Zudem dürfe es keine „demografischen Veränderungen“geben, meinte Abdi mit Blick auf den türkischen Plan zur Massenumsiedlung von Flüchtlingen. Die YPG wirft der Türkei vor, vor allem arabische Syrer in die Region bringen und so die Kurden zur Minderheit machen zu wollen.
Nicht nur deshalb ist unsicher, ob die Türkei ihre Ziele in Syrien tatsächlich erreichen kann. Auch die von den kurdischen Kräften zu Hilfe gerufene syrische Armee und deren russische Beschützer haben bereits einige Städte in der geplanten „Sicherheitszone“besetzt.