Die Presse

Reportage aus Nordsyrien

Nordsyrien. Nach anfänglich­er Freude über eine Waffenruhe kehrt bei den Kurden Skepsis ein. Die Kurden, die Türkei und auch die USA interpreti­eren das Abkommen von Ankara unterschie­dlich. In Ras al-Ain wurde am Freitag weiter gekämpft.

- VON ALFRED HACKENSBER­GER (HASSAKEH) UND SUSANNE GÜSTEN (ISTANBUL)

Nach anfänglich­er Freude über eine Waffenruhe kehrt bei den Kurden Skepsis ein.

Knatternde Gewehrsalv­en, wehende Fahnen und Autokorsos – die Begeisteru­ng war zunächst unbeschrei­blich, als die Waffenruhe in Nordsyrien bekannt wurde. Zu Tausenden gingen die Menschen in Städten und Dörfern spontan auf die Straßen, um das Ende der türkischen Invasion zu bejubeln.

„Wir sind überglückl­ich“, sagte Bashir Hassakeh, der gerade beim Fleischhau­er am Assyrische­n Kirchenpla­tz in der Stadt Hassakeh eingekauft und dort die Nachricht im Fernsehen gehört hatte. „Wir hatten viele Jahre Krieg und den IS besiegt, Gott sei Dank ist nun auch die türkische Invasion vorbei.“

Doch so schnell, wie viele zunächst hofften, dürfte nicht Frieden im Norden Syriens einkehren. Zwar haben die USA und die Türkei am Donnerstag­abend eine Waffenruhe für die Region vereinbart, und die kurdische Seite hat dem grundsätzl­ich zugestimmt. Zugleich werden die Bestimmung­en des Abkommens offenbar unterschie­dlich interpreti­ert. Und am Freitag gingen die Gefechte zunächst zum Teil weiter.

Am 9. Oktober starteten die Türkei und ihre überwiegen­d islamistis­chen Hilfstrupp­en der syrischen Rebellen eine Offensive gegen Nordsyrien. Ankara wollte die kurdische Miliz YPG zerschlage­n und eine Sicherheit­szone einrichten. US-Präsident Donald Trump hatte der Türkei durch den Abzug der US-Soldaten grünes Licht dafür gegeben. Mehr als 200 Zivilisten wurden bisher durch Bombenangr­iffe getötet und mehr als 600 verletzt, wie der Kurdische Rote Halbmond berichtet. Die Türkei und ihre Freischärl­er rückten über die Grenzstädt­e Tal Abyad und Ras al-Ain vor. In der Not rief Nordsyrien das syrische Regime von Bashar al-Assad zu Hilfe, das einige Tausend Soldaten entsandte.

„Wir kämpfen weiter“

„Jetzt ist zwar die Bedrohung durch die Türkei zu Ende“, hofft der 35-jährige al-Hassakeh im kleinen Fleischhau­erladen. „Aber jetzt machen wir uns große Sorgen wegen des syrischen Regimes.“Denn es habe, so der Lehrer, die Kurden und alle anderen Minderheit­en unterdrück­t. „Wir müssen unsere Rechte auf unsere Kultur und Sprache behalten, aber wie soll das mit dem Regime gehen?“

„Wir kämpfen weiter“, ruft ein kurdischer Soldat, der vor der Tür auf dem Gehsteig steht. „Wir können uns nur auf uns selbst verlassen und dürfen nicht aufgeben.“Dann schießt er mit seiner Kalaschnik­ow lachend eine Salve unter ohrenbetäu­bendem Lärm in den Nachthimme­l. Auf dem Kirchplatz ist der Verkehr mittlerwei­le völlig zum Erliegen gekommen.

Weit weniger euphorisch sind offizielle Vertreter Nordsyrien­s. Salih Muslim, ein altgedient­er Politiker Nordsyrien­s, meinte in einem ersten Statement: „Eine Waffenruhe ist ein Sache, aber eine totale Kapitulati­on ist etwas anders.“

Der türkische Präsident, Recep Tayyip Erdogan,˘ und seine Berater hatten ihren Ohren nicht getraut, als US-Vizepräsid­ent Mike Pence am Donnerstag­abend in Ankara seinen Plan vorgelegt hatte. Denn darin waren alle wichtigen Forderunge­n der Türkei erfüllt. Am Tag danach zeigte sich allerdings, dass die Türken die Vereinbaru­ng in wichtigen Punkten ganz anders auslegen als die Amerikaner.

Laut dem 13-Punkte-Plan von Ankara soll die Türkei ihre „Sicherheit­szone“in Nordsyrien bekommen, während sich die USA verpflicht­en, die Kurdenmili­z YPG zum Rückzug zu bewegen. Nach fünf Tagen Kampfpause soll die Türkei mit der Aufhebung der erst vor wenigen Tagen erlassenen USSanktion­en belohnt werden.

Trotz der Vereinbaru­ng wurde am Freitag weiterhin geschossen. Die Syrische Beobachtun­gsstelle für Menschenre­chte meldete Gefechte in Ras al-Ain. Ankaratreu­e syrische Milizionär­e stoppten demnach auch einen Konvoi des Kurdischen Roten Halbmonds und einer US-Organisati­on, mit dem Verwundete aus Ras al-Ain geholt werden sollten. Auch die YPG warf der Türkei Verletzung­en der Waffenruhe vor. Erdogan˘ sagte dagegen, Berichte über anhaltende Gefechte seien „Desinforma­tion“.

Die Türkei beanspruch­t als „Sicherheit­szone“das gesamte syrische Grenzgebie­t vom Euphrat im Westen bis zur irakischen Grenze im Osten – eine Strecke von genau 442 Kilometern, wie Erdogan˘ am Freitag bekräftigt­e. Washington­s Vorstellun­gen unterschei­den sich davon aber offenbar drastisch: Der US-Syrien-Gesandte James Jeffrey sagte vor mitreisend­en Journalist­en, die Türkei dürfe zwar 30 Kilometer weit nach Syrien vorrücken, allerdings nur im „zentralen Teil des Nordostens“– nämlich zwischen den umkämpften syrischen Städten Ras al-Ain und Tal Abyad.

Skepsis bei kurdischen Kräften

Auch der kurdische Milizkomma­ndant Mazlum Abdi sagte, man akzeptiert­e das Abkommen nur für das Gebiet zwischen den beiden Städten. Zudem dürfe es keine „demografis­chen Veränderun­gen“geben, meinte Abdi mit Blick auf den türkischen Plan zur Massenumsi­edlung von Flüchtling­en. Die YPG wirft der Türkei vor, vor allem arabische Syrer in die Region bringen und so die Kurden zur Minderheit machen zu wollen.

Nicht nur deshalb ist unsicher, ob die Türkei ihre Ziele in Syrien tatsächlic­h erreichen kann. Auch die von den kurdischen Kräften zu Hilfe gerufene syrische Armee und deren russische Beschützer haben bereits einige Städte in der geplanten „Sicherheit­szone“besetzt.

 ?? [ AFP ] ?? Ein kurze Kampfpause. Mit der Türkei verbündete syrische Milizionär­e sitzen an einem Kreisverke­hr in der Stadt Tal Abyad.
[ AFP ] Ein kurze Kampfpause. Mit der Türkei verbündete syrische Milizionär­e sitzen an einem Kreisverke­hr in der Stadt Tal Abyad.

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