„Dieses Land ist komplett ruiniert“
Libanon. Eine geplante WhatsApp-Steuer brachte das Fass zum Überlaufen: Tausende protestieren gegen die Regierung, Korruption und die schlechte Wirtschaftslage. In Beirut brennen Barrikaden.
Ein Bub mit grün-weiß gemustertem Tuch vor dem Mund zieht eine Holzpalette in die Mitte der Straße und versucht, sie an einem schon brennenden Reifen anzuzünden. „Er ist erst 14!“, ruft ein junger Mann, während ein weiterer verachtend seinen libanesischen Pass in die Höhe hält. Die jungen Männer bauen Straßenbarrikaden aus brennenden Müllcontainern in den südlichen Vororten Beiruts. „Dieses Land ist komplett ruiniert. Wir wollen leben, wir brauchen Gerechtigkeit.“
Am Donnerstagabend begannen Tausende im Libanon, gegen die Regierung und die anhaltende Wirtschaftskrise zu protestieren.
Die Ansage des Informationsministers, künftig eine Steuer auf WhatsApp-Dienste zu erheben, hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Sie war die jüngste Ankündigung in einer Reihe von politischen Entscheidungen, die zulasten der Zivilbevölkerung gehen, um einen Staatsbankrott abzuwehren.
Der Libanon steht kurz vor dem wirtschaftlichen Zusammenbruch. Die Staatsschulden von 86 Milliarden US-Dollar entsprechen 150 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Die Bevölkerung bekam die Finanzkrise Ende September zu spüren, als der Vorrat an US-Dollar ausging, Tankstellen zeitweise kein Benzin und Banken keine Dollar mehr ausgaben. Wechselstuben hoben den Umtauschkurs von Libanesischen Pfund zu Dollar an – obwohl die libanesische Währung seit 1997 mit einem festen Wechselkurs an den Dollar gebunden ist, was Stabilität garantieren soll.
Eine Steuer auf die Internetkommunikation trifft die Menschen besonders. Handytelefonate sind kostspielig, die billigste Option ist eine WhatsApp-Flatrate, über die viele telefonieren. Die Gewinne der Telekommunikationsanbieter sahnen die Familiendynastien ab, die politisch das Sagen haben.
„Wir sind nicht hier, um gegen die WhatsApp-Steuer zu demonstrieren. Wir wollen Wasser, Elektrizität und Brot“, sagte der 21-jährige Ali der „Presse“. Er sucht nach Arbeit und ist wütend aufgrund der hohen Arbeitslosenrate. Ein älterer Mann auf einem Motorrad zeigt eine Arzneimittelpackung. Er ist verärgert über die hohen Preise importierter Medikamente.
Schnell verbreiteten sich Bilder und Videos auf WhatsApp und Twitter, sodass sich Tausende einem Protestmarsch rund um den zentralen Märtyrerplatz und vor dem Regierungsgebäude anschlossen. Dabei zündeten einige Protestierende zwei im Bau befindliche Luxushäuser an und legten Feuer vor der Blauen Moschee und einer orthodoxen Kirche – die Ikonen der gelebten Koexistenz von 18 Religionsgemeinschaften im Land. Sie betonten, dass Menschen aller Religionen in der Wut gegen die Regierung vereint seien. In Anlehnung an die arabischen Aufstände 2011 forderten sie den „Abgang der Regierung“. Dabei wurde Libanons Regierung erst im Jänner gebildet – nach neun Jahren ohne Wahlen.
Als Reaktion auf die Proteste ordnete Premier Saad Hariri an, die WhatsApp-Steuer zu stoppen. Bildungsminister Akram Chehayeb ließ einen seiner Bodyguards in die Luft schießen, um Protestierende abzuwehren. Später kündigte er an, Schulen und Universitäten am Freitag geschlossen zu halten. Auch Banken bleiben zu.
Die Demonstrationen sind die größten im Land, seit der Müllkrise 2015. Damals protestierten die Menschen gegen die katastrophale Abfallsituation und die Politiker, die den Müll unsortiert auf Halden am Mittelmeer aufschütten lassen – um Land zu gewinnen.
„Sie bringen uns hier jeden Tag um“, sagte nun ein Protestierender. „Es gibt keine Natur mehr, alles ist verschmutzt.“Nicht nur die Müllentsorgung ist ungelöst. Die Wälder im Norden des Landes stehen seit Tagen in Flammen, nur mit Hilfe aus Zypern konnten die Brände gelöscht werden. Die Wasserwerfer, die die Waldbrände nicht stoppen konnten, nutzte die Regierung am Freitagmorgen, um die Proteste zu beenden.