„Jeder weiß, wo Arm und Reich zu Hause sind“
Film. Mit „Parasite“gewann Bong Joon-ho in Cannes die Goldene Palme, jetzt kommt sein Film in österreichische Kinos: ein Gespräch über entrechtete Doppelgänger, einen Zierstein als Waffe und traumatisierende Spoiler.
Dass viele zu ebener Erde wohnen und manche im obersten Stock, hat mit den Launen des Glücks wenig zu tun: Dessen ist sich die verarmte Familie Kim schmerzlich bewusst. Also bündelt sie ihre Talente und gaukelt sich als Fake-Dienstleister ins Dasein einer bessergestellten Mischpoche. Was anfangs erstaunlich gut klappt, führt irgendwann zur tragikomischen Eskalation. Für seine clevere Gesellschaftssatire und wilde Genremischung „Parasite“gewann der Südkoreaner Bong Joon-ho heuer die Goldene Palme in Cannes. „Die Presse“traf den 50-Jährigen in München.
Die Presse: „Parasite“ist der erste CannesGewinner aus Südkorea. Sind Sie jetzt ein Nationalheld?
Bong Joon-ho: Nicht wirklich. Aber bei meiner Rückkehr aus Frankreich war ich erstaunt, dass mein Land sich plötzlich für europäische Filmfestivals interessiert: Auf dem Flughafen tummelten sich Hunderte Journalisten. Ich dachte erst, die Euphorie gilt dem Besuch einer Fußballmannschaft!
Ihr Film handelt von einer armen Familie, die sich ins Leben der Oberschicht schwindelt. Wer ist hier eigentlich der „Parasit“? Der Titel soll provozieren. Weil die Armen die Reichen hinters Licht führen, liegt der Schluss nahe, sie wären die Schmarotzer. Doch im Grunde folgen sie einer offenen Einladung: Schließlich ist die Hautevolee meist nicht willens, selbst Auto zu fahren oder abzuwaschen. Wenn Anstand und Menschenwürde ins Hintertreffen geraten, werden alle Beziehungen parasitär.
Der Patriarch der Gutbetuchten betont die Bedeutung unausgesprochener Grenzen. Die gibt es, wir blenden sie nur aus. Welcher Klasse man angehört, bestimmt den Bewegungs- und Entfaltungsspielraum, das ist wie Business und Economy im Flugzeug. Werfen Sie einen Blick in den Stadtplan: Jeder weiß, wo Arm und Reich zu Hause sind, auch, dass sie nie zusammenkommen. Nur aneinander vorbei – die einen als Geldgeber, die anderen als Putzkraft oder Chauffeur.
2018 griff Ihr Landsmann Lee Chang-dong in seinem Cannes-Beitrag „Burning“ähnliche Themen auf. Steigt das Bewusstsein für Ungleichheit in Südkorea?
Die soziale Kluft ist ein globales Problem, und das Gespür dafür nimmt zu: Auch in Europa herrscht Angst vor dem Absturz der Mittelschicht. „Shoplifters“, der japanische
Cannes-Sieger des letzten Jahres, handelte von verdrängter Armut. Und unlängst startete der amerikanische Horrorfilm „Us“, in dem eine gut situierte Familie von ihren entrechteten Doppelgängern heimgesucht wird.
„Parasite“erzählt die Spaltung auch mittels Architektur: Eine Sippschaft haust im Kellerloch, die andere im Designerhaus. Für beides gab es reale Vorbilder. Im Fall der Luxushütte vor allem Arbeiten eines südkoreanischen Architekten, der bei begüterten Jungfamilien, die sich etwas auf ihren mondänen Geschmack einbilden, beliebt ist.
Ein Zierstein, den der Sohn der armen Familie geschenkt bekommt, bringt die Dinge ins Rollen. Was hat es damit auf sich? Das ist ein „Betrachtungsstein“, ein beliebtes Sammlerobjekt für die Generation meines Vaters. Manche zahlten früher Unsummen dafür. Die Ironie: Solche Steine haben heute kaum noch Wert, junge Menschen wissen nichts damit anzufangen. Trotzdem projiziert der Sohn seine Hoffnungen darauf, sieht in diesem Block eine Art Glücksbringer.
Er meint, der Stein sei „sehr metaphorisch“. Ein Witz?
Das jüngere Kinopublikum meines Heimatlandes hat die nervige Angewohnheit, meine Filme symbolisch aufzuladen und auszudeuten. Ich wollte ihnen zuvorkommen: Der Stein hat keinerlei übertragenen Sinn – außer, dass er irgendwann zur Waffe wird. Und die Mutter der armen Familie liefert seine angemessene Interpretation ohnehin gleich mit: Etwas Essbares wäre ihr lieber gewesen.
Augenzwinkernd auch, dass Gianni Morandis Italo-Schlager „In ginocchio da te“als Soundtrack eines heftigen Gerangels ertönt. Eine Herzensnummer?
Gar nicht! Dass der Song läuft, ist reiner Zufall. Teil unseres Wohnhaus-Sets war ein Plattenspieler, dem der Szenenbildner LPs beigestellt hatte. Auf der Suche nach passender Musik legte ich eine davon auf, und „In ginocchio da te“war der erste Track. Unser italienischer Verleiher war nach der CannesPremiere ganz aus dem Häuschen: Mein Gott, woher kennen Sie das?
In Cannes baten Sie via Presseaussendung um Spoilervermeidung. Sind Sie diesbezüglich traumatisiert?
Ich persönlich nicht, aber in den 1990ern gab es in Seoul einen legendären SpoilerFall. Damals gab es bei Kinos nur einen Ticketschalter, vor dem sich oft endlose Schlangen bildeten. Eine zog sich vor einer Vorstellung des Mystery-Films „The Sixth Sense“entlang einer stark befahrenen Straße. Plötzlich braust ein Bus vorbei, ein Schüler öffnet das Fenster und schreit: Bruce Willis ist das Gespenst! Die Leute drehten durch − doch der Täter wurde nie gefasst.
Sie haben schon für Netflix und mit englischsprachigen Stars wie Tilda Swinton gedreht. Gibt es wesentliche Unterschiede zwischen einer südkoreanischen und einer internationalen Produktion? Ausschlaggebend ist für mich vielmehr der Maßstab. Bei „Parasite“war das Budget kleiner als bei meinen letzten Arbeiten, damit fühle ich mich wohler.