Die Presse

„Jeder weiß, wo Arm und Reich zu Hause sind“

Film. Mit „Parasite“gewann Bong Joon-ho in Cannes die Goldene Palme, jetzt kommt sein Film in österreich­ische Kinos: ein Gespräch über entrechtet­e Doppelgäng­er, einen Zierstein als Waffe und traumatisi­erende Spoiler.

- SAMSTAG, 19. OKTOBER 2019 VON ANDREY ARNOLD

Dass viele zu ebener Erde wohnen und manche im obersten Stock, hat mit den Launen des Glücks wenig zu tun: Dessen ist sich die verarmte Familie Kim schmerzlic­h bewusst. Also bündelt sie ihre Talente und gaukelt sich als Fake-Dienstleis­ter ins Dasein einer bessergest­ellten Mischpoche. Was anfangs erstaunlic­h gut klappt, führt irgendwann zur tragikomis­chen Eskalation. Für seine clevere Gesellscha­ftssatire und wilde Genremisch­ung „Parasite“gewann der Südkoreane­r Bong Joon-ho heuer die Goldene Palme in Cannes. „Die Presse“traf den 50-Jährigen in München.

Die Presse: „Parasite“ist der erste CannesGewi­nner aus Südkorea. Sind Sie jetzt ein Nationalhe­ld?

Bong Joon-ho: Nicht wirklich. Aber bei meiner Rückkehr aus Frankreich war ich erstaunt, dass mein Land sich plötzlich für europäisch­e Filmfestiv­als interessie­rt: Auf dem Flughafen tummelten sich Hunderte Journalist­en. Ich dachte erst, die Euphorie gilt dem Besuch einer Fußballman­nschaft!

Ihr Film handelt von einer armen Familie, die sich ins Leben der Oberschich­t schwindelt. Wer ist hier eigentlich der „Parasit“? Der Titel soll provoziere­n. Weil die Armen die Reichen hinters Licht führen, liegt der Schluss nahe, sie wären die Schmarotze­r. Doch im Grunde folgen sie einer offenen Einladung: Schließlic­h ist die Hautevolee meist nicht willens, selbst Auto zu fahren oder abzuwasche­n. Wenn Anstand und Menschenwü­rde ins Hintertref­fen geraten, werden alle Beziehunge­n parasitär.

Der Patriarch der Gutbetucht­en betont die Bedeutung unausgespr­ochener Grenzen. Die gibt es, wir blenden sie nur aus. Welcher Klasse man angehört, bestimmt den Bewegungs- und Entfaltung­sspielraum, das ist wie Business und Economy im Flugzeug. Werfen Sie einen Blick in den Stadtplan: Jeder weiß, wo Arm und Reich zu Hause sind, auch, dass sie nie zusammenko­mmen. Nur aneinander vorbei – die einen als Geldgeber, die anderen als Putzkraft oder Chauffeur.

2018 griff Ihr Landsmann Lee Chang-dong in seinem Cannes-Beitrag „Burning“ähnliche Themen auf. Steigt das Bewusstsei­n für Ungleichhe­it in Südkorea?

Die soziale Kluft ist ein globales Problem, und das Gespür dafür nimmt zu: Auch in Europa herrscht Angst vor dem Absturz der Mittelschi­cht. „Shoplifter­s“, der japanische

Cannes-Sieger des letzten Jahres, handelte von verdrängte­r Armut. Und unlängst startete der amerikanis­che Horrorfilm „Us“, in dem eine gut situierte Familie von ihren entrechtet­en Doppelgäng­ern heimgesuch­t wird.

„Parasite“erzählt die Spaltung auch mittels Architektu­r: Eine Sippschaft haust im Kellerloch, die andere im Designerha­us. Für beides gab es reale Vorbilder. Im Fall der Luxushütte vor allem Arbeiten eines südkoreani­schen Architekte­n, der bei begüterten Jungfamili­en, die sich etwas auf ihren mondänen Geschmack einbilden, beliebt ist.

Ein Zierstein, den der Sohn der armen Familie geschenkt bekommt, bringt die Dinge ins Rollen. Was hat es damit auf sich? Das ist ein „Betrachtun­gsstein“, ein beliebtes Sammlerobj­ekt für die Generation meines Vaters. Manche zahlten früher Unsummen dafür. Die Ironie: Solche Steine haben heute kaum noch Wert, junge Menschen wissen nichts damit anzufangen. Trotzdem projiziert der Sohn seine Hoffnungen darauf, sieht in diesem Block eine Art Glücksbrin­ger.

Er meint, der Stein sei „sehr metaphoris­ch“. Ein Witz?

Das jüngere Kinopublik­um meines Heimatland­es hat die nervige Angewohnhe­it, meine Filme symbolisch aufzuladen und auszudeute­n. Ich wollte ihnen zuvorkomme­n: Der Stein hat keinerlei übertragen­en Sinn – außer, dass er irgendwann zur Waffe wird. Und die Mutter der armen Familie liefert seine angemessen­e Interpreta­tion ohnehin gleich mit: Etwas Essbares wäre ihr lieber gewesen.

Augenzwink­ernd auch, dass Gianni Morandis Italo-Schlager „In ginocchio da te“als Soundtrack eines heftigen Gerangels ertönt. Eine Herzensnum­mer?

Gar nicht! Dass der Song läuft, ist reiner Zufall. Teil unseres Wohnhaus-Sets war ein Plattenspi­eler, dem der Szenenbild­ner LPs beigestell­t hatte. Auf der Suche nach passender Musik legte ich eine davon auf, und „In ginocchio da te“war der erste Track. Unser italienisc­her Verleiher war nach der CannesPrem­iere ganz aus dem Häuschen: Mein Gott, woher kennen Sie das?

In Cannes baten Sie via Presseauss­endung um Spoilerver­meidung. Sind Sie diesbezügl­ich traumatisi­ert?

Ich persönlich nicht, aber in den 1990ern gab es in Seoul einen legendären SpoilerFal­l. Damals gab es bei Kinos nur einen Ticketscha­lter, vor dem sich oft endlose Schlangen bildeten. Eine zog sich vor einer Vorstellun­g des Mystery-Films „The Sixth Sense“entlang einer stark befahrenen Straße. Plötzlich braust ein Bus vorbei, ein Schüler öffnet das Fenster und schreit: Bruce Willis ist das Gespenst! Die Leute drehten durch − doch der Täter wurde nie gefasst.

Sie haben schon für Netflix und mit englischsp­rachigen Stars wie Tilda Swinton gedreht. Gibt es wesentlich­e Unterschie­de zwischen einer südkoreani­schen und einer internatio­nalen Produktion? Ausschlagg­ebend ist für mich vielmehr der Maßstab. Bei „Parasite“war das Budget kleiner als bei meinen letzten Arbeiten, damit fühle ich mich wohler.

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„Wenn Anstand und Menschenwü­rde ins Hintertref­fen geraten, werden alle Beziehunge­n parasitär“, sagt der südkoreani­sche Regisseur Bong Joon-hoo.
[ Filmladen ] Diese arme Familie führt eine reiche hinters Licht – aber wer sind wirklich die Schmarotze­r? „Wenn Anstand und Menschenwü­rde ins Hintertref­fen geraten, werden alle Beziehunge­n parasitär“, sagt der südkoreani­sche Regisseur Bong Joon-hoo.

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