Bulgakows „Faust“-Version mit tollem Teufel – und ein Dichter wird gekreuzigt
Akademietheater. Ene-Liis Semper und Tiit Ojasoo zeigen „Der Meister und Margarita“als irrwitzige Performance.
Das Leben Jesu verlief wie bei Mutter und Vater/Er trieb sinnlos Terror und zuletzt auch Theater.“Den russischen Dichter Demjan Bedny würden vermutlich nicht viele kennen, hätte er nicht eine krasse und gereimte Kurzfassung des Neuen Testaments geschrieben, die zum Auftakt von Michail Bulgakows „Der Meister und Margarita“(hier „Meister und Margarita“) im Akademietheater gesprochen wird.
Bevor den Zuschauer noch leichte Empörung beschleichen kann ob der gottlosen Reden, die hier geführt werden, explodiert die Performance des estnischen Regieduos Ene-Liis Semper und Tiit Ojasoo, die für Regie, Bühne, Kostüme und Video dieses Abends verantwortlich zeichnen. Der von Stalin ruinierte Schriftsteller Michail Bulgakow (1891–1940) schrieb sich mit „Der Meister und Margarita“seinen Lebensalbtraum von der Seele: Die Diktatur beherrscht nicht nur das Land, sondern auch den Literaturbetrieb, mit Künstlern spielt der Apparat Katz und Maus, bis sie zusammenbrechen, wahnsinnig werden oder beides.
In seinem Buch erzählt Bulgakow von der Großstadt Moskau, fiebrig, elend, vital, von den ausschweifenden Partys einer abgeschotteten Oberschicht und von einem Poeten, der die Vita von Jesus zum Krimi umdeutet. Und es geht eben um den Meister und Margarita, den Dichter und seine Geliebte, die gegen die Tyrannei keine Chancen haben. Der Teufel steckt in allem.
Er ist wie es in der Bibel heißt: „Der Fürst dieser Welt.“Norman Hacker spielt ihn, die Zeichnung der Figur zwischen Horror und Clowneske erinnert an „Joker“, der Film von Todd Phillips läuft gerade im Kino. Zu Beginn der Aufführung taucht der Satan, er heißt Woland, im eleganten Großraumbüro auf. Er gibt sich als Professor aus und verwirrt den Redakteur Berlioz (Philipp Hauß) und den Lyriker Iwan (Marcel Heuperman) mit unheimlichen Prophezeiungen.
Eine trifft prompt ein: Berlioz wird von einer Straßenbahn überfahren, dabei wird sein Kopf abgetrennt. Fortan wechselt die Aufführung zwischen des Meisters Roman über Pontius Pilatus (auch diesen spielt Philipp Hauß), der sich mit Jesus (hier genannt Jeschuah: Tim Werths) anfreunden möchte, sowie der Lovestory des Meisters, einer Faust-Variation (Rainer Galke), mit seiner hinreißend Wärme verströmenden Gefährtin Margarita (wunderbar: Annamaria´ Lang).´ Eine weitere Ebene ist das Office, ein Ort der Lust und eine Hölle, Quickies, Konkurrenzkämpfe und Karrieregeilheit. Im Osten tummelten sich immer schon die abgründigsten Systemkritiker, das hat sich seit der Wende anscheinend nicht verändert.
Die bildstarke Aufführung dauert dreieinhalb Stunden mit Pause, im ersten Teil wirkt wieder einmal manches wie eine billige Kopie von Frank Castorf oder Christoph Marthaler. Doch je mehr das Spektakel voranschreitet, umso verblüffender erscheint es. Am Ende klang der begeisterte Applaus echt und nicht wie sonst oft bei Premieren von Angehörigen der Schauspieler befeuert.
Einige Szenen dürften selbst Skeptikern in Erinnerung bleiben, etwa wie der Meister, der mit Lyriker Iwan in der Zwangsjacke fixiert wird und ins Irrenhaus kommt, am Kreuz hochgezogen wird, ein grausamer Tod ist dem Künstler beschieden, der nicht linientreu ist. Stalin quälte Bulgakow über Jahre, verbot sein Werk, bis der Schriftsteller starb. Die aalglatten Bürohengste samt Bürostute, die keine Ausnahme ist, verbiegen sich für die Mächtigen. Der Teufel beschert Feiernden in der noblen Kantine einen Geldregen aus der Lüftung, der jedoch in Papierschnipsel zerfällt. Als der Kantineur den Satan aufsucht, um sich zu beschweren, sind die Euro-Hunderter wieder da.
Der Teufel wechselt ständig seine Rollen, fulminant, begleitet von seinem androgynen Unterteufel Behemot (Felix Kammerer) und Sadomaso-Lady Hella (Stefanie Dvorak). Die Akteure sind physisch stark gefordert, vor allem Jesus, der Putzmann mit Dornenkrone, der heiligen Liedern lauscht, welche die schicken Business-Typen einmal singen. Jesus fühlt sich von ihnen grob missverstanden wie auch von seinen Evangelisten, er streift sich ein Sakko über und windet sich in wildem Schlangentanz . . .
Dies ist kein Abend für Konservative, aber ein toller, frecher Wurf und im zweiten Teil fast ein Geniestreich, der es mit dem grandiosen Roman aufnehmen kann.