Die Probleme des Titus – und Lösungsansätze
Theater an der Wien. Mozarts letzte Oper gilt als schwer realisierbar, aus musikalischen wie szenischen Gründen. Regisseur Sam Brown hat das Stück trotz der Rezitative von Assistentenhand spannend realisiert.
Zuallererst stößt man sich bei dieser Oper stets an den Rezitativen. Nicht, weil sie bereits bei der Uraufführung von 1791 als veraltetes Relikt der „Opera seria“galten, sondern weil sie nicht einmal von Mozart stammen, sondern von dessen Schüler Süßmayr. Es war schlicht nicht genügend Zeit für das ehrgeizige Projekt einer Neubelebung des Seria-Gedankens im Lichte von Mozarts moderner, psychologisierender Musikdramatik.
So blieben uns zukunftsweisende Arien und Ensembles, die aber im Kontext vereinzelt dastehen. Das Leading-Team der jüngsten Premiere im Theater an der Wien fand eine Lösung: Dirigent Stefan Gottfried am Cembalo und ein Kompagnon am Hammerklavier bringen Farbe und gehörig Bewegung ins Spiel – und Regisseur Sam Brown nützt diesen Elan, um die Sänger wirklich zu Darstellern zu machen.
Die Geschichte von den Rachegelüsten der Kaiserstochter Vitellia, die durch Intrigen den ihr hündisch ergebenen Sextus zum Aufrührer gegen seinen eigenen Freund, den gütigen Kaiser Titus, macht, steckt voll Emotionen. Mozart lässt ihnen in den orchesterbegleiteten Nummern freien Lauf. Die Inszenierung holt sie diesmal in aller Schärfe und Brutalität auf die Bühne.
Man kommt gar nicht dazu nachzudenken, ob die Musik gerade vom Meister oder seinem Gesellen sein könnte. Man lebt und leidet mit, denn die Gebärdensprache verrät alle Geheimnisse. Sie lässt uns an den inneren Kämpfen der handelnden Personen teilhaben. Damit kommen in keinem Moment Zweifel auf, was Mozart an diesem uralten, für die neue Zeit adaptierten Stoff gefesselt haben muss: Da geht es nicht so sehr darum, die fürchterlich konsequente Güte eines Herrschenden verstehen zu wollen, sondern darum, wie die von ihr Umgarnten reagieren. Jeder für sich. Und alle miteinander in schicksalhafter Verstrickung.
Im Furor der Ereignisse wird in Alex Lowdes drehbarem Einheitsbühnenbild, einem schlichten Arkadengang aus Leuchtstäben, schon auch einmal im Laufen und in Richtung Hinterbühne gesungen. Das alles dient jener theatralischen Wahrhaftigkeit, die Mozart wohl gemeint hat, als er davon sprach, sein Textdichter hätte die „barücke Vorlag“zu einer „echten Oper“gemacht.
Fixierungen, Ehrgeiz, Hysterie, Verzweiflung und auch das aufmüpfige Potenzial des
Volkes in Gestalt des exzellenten Arnold Schönberg Chors: All das wird an diesem Abend sichtbar und wirkt dynamisch aufeinander ein. Hörbar wird auch manches, wenn auch nicht so viel, wie die Regie aus Text und Musik herausgeholt hat.
Während man die dramaturgischen Rätsel des Stücks zumindest über weite Teile gelöst und – auch via Designer-Kostüme – ins Hier und Heute geholt hat, ohne den Sinn der Fabel aus den Augen zu verlieren, scheinen die musikalischen Fragen, die Mozarts Partitur jenseits des Qualitätsanspruchs an die Rezitative aufwirft, nach wie vor brisant.
Vor allem diese: Welch eine Primadonna muss Maria Marchetti-Fantozzi gewesen sein, die Vitellia der Uraufführung im Prager Nationaltheater? Die Anforderungen an Koloraturgewandtheit, dramatischen Ausdruck und Stimmumfang machen diese Partie heute zu einer der am schwersten zu besetzenden Rollen des gesamten Opernrepertoires. An der Wien versucht sich die junge Nicole Chevalier mit achtbarem Erfolg, aber doch deutlich überfordert, vor allem von den tief liegenden dramatischen Partien der finalen Arie „Non piu` di fiori“.
Ähnlich improvisatorisch in den Koloraturen agiert der ausdrucksstarke Sextus von David Hansen, dessen rauer Countertenor doch gewöhnungsbedürftig klingt – schöne Erinnerungen an vokale Sternstunden in der großen „Parto“-Arie muss der Musikfreund hintanstellen. Hier ist und bleibt schauspielerischer Verismo Trumpf. Dass es an diesem Abend mit dem Annius, Kangmin Justin Kim, krausen Musikologen-Theorien folgend noch einen zweiten Counter gibt, ist ein Bruch mit der Aufführungstradition, aber wohl auch mit Mozarts Intention, sich von barocken Überresten zu befreien.
Doch Kim führt seine Stimme feinfühlig, harmoniert auch mit dem edel strömenden Sopran der Servilia (Mari Eriksmoen). Der Tenor von Jeremy Ovenden in der Titelpartie bleibt hingegen eher blass-monochrom. Mit Jonathan Lemalu hat er einen auch stimmlich in Ehren ergrauten treuen Berater zur Seite. Alle miteinander müssen ihre musikalischen Aufgaben im Verein mit dem Concentus musicus lösen. Stefan Gottfried ist ihm ein bemühter Taktgeber, dem es aber an der nötigen Opernkapellmeister-Routine gebricht: Für eine Wiener Mozart-Premiere wäre doch ein Animator gefragt, der alle nach seiner Pfeife – und konsequent im Gleichschritt – tanzen lässt.