Verfassung und „Menschenwürde“
Der österreichische Grundrechtskatalog könnte ergänzt werden, aber besser in eine andere (ökologische) Richtung.
Schonungsvoll und kundig hat mein Kollege Hannes Tretter („Die Presse“, 4.10.) die relevanten Rechtsquellen aufgezeigt und die interessante grundrechtspolitische Frage behandelt, warum in Österreichs Verfassung der Schutz der Menschenwürde, anders als im Bonner Grundgesetz, nicht verankert ist. Im Ergebnis schloss er sich dann, wie ich meine ein wenig überraschend, dem flammenden Appell der Kolumnistin Andrea Schurian („Die Presse“v. 1.10.) an, die „Unantastbarkeit und Unteilbarkeit der Menschenwürde“nach dem Vorbild ausländischer Konstitutionen auch hierzulande in der Bundesverfassung zu verankern.
Nun muss man wissen, dass der in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10.12.1948 sowie im Bonner Grundgesetz im Jahr darauf formulierte Schutz der Menschenwürde eine Reaktion auf die damals nur knapp zurückliegenden Gräuel von Holocaust, Massenmord und Sterben im Zweiten Weltkrieg darstellte. Im Lichte dieser Ereignisse und deren bis heute spürbarer Wucht glaube ich nicht, dass nun wieder Zeiten wie „diese“angebrochen sind, in denen es zur totalen Negierung der Menschenrechte und der -würde in Europa kommt. Zwischen einer zeitweise ruppigen und missglückten Migrationspolitik und dem systematischen Morden der NS-Ära liegen Welten. Und die über Fachkreise hinaus bekannten EMRK-Grundrechte (wie das Folterverbot, der Schutz des Lebens, etc.) decken ohnehin jene Aspekte ab, die das wichtigste Substrat der Menschenwürde ausmachen.
Deshalb wäre der „Mehrwert“einer plakativen und ausdrücklichen Verankerung der Menschenwürde im B-VG oder dem Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger kritisch zu hinterfragen. In Deutschland, wo die EMRK formell nicht im Verfassungsrang steht und die Grundrechtecharta der EU wie bei uns gilt, ist dieses
„Kleinod des menschlichen Zusammenlebens“(© Felix Ermacora, 1963) im Effekt auch nicht besser geschützt als bei uns, obwohl unsere Nachbarn stolz auf ihren Katalog sind. Das hängt damit zusammen, dass der Begriff der Menschenwürde, der auch im ABGB angesprochen wird, wie von Hannes Tretter erwähnt, insgesamt schwer auslotbar ist.
Und doch wäre es nicht abwegig, zeitgemäße Grundrechte neu zu fassen und zu kodifizieren. Es spricht nichts dagegen, einen modernen Katalog aufzusetzen, wie ihn die Schweiz in ihre (neue) Bundesverfassung der Jahrtausendwende aufgenommen hat. Bekanntlich sind in der Zweiten Republik die Bemühungen um einen neuen Grundrechtskatalog gescheitert. Lediglich punktuelle Ergänzungen des „alten“, aber bewährten Kanons oder Modernisierungen (z. B. des Freiheitsschutzes) gelangen. Heute aber gibt es neue Herausforderungen an die Rechtsordnung, die etwa in der Ignoranz im Umgang mit dem Klimawandel zu sehen sind.
Eine Ausweitung ökologischer Rechte auf Grundrechtsebene sowie des subjektiv-rechtlichen Anspruchs auf Nachhaltigkeit, welche die Erfolgschance von „Klimaklagen“eröffnen würden, wäre im Lichte von Greta Thunbergs Bemühungen, den Schülerprotesten und der von Bundespräsident Anlexander Van der Bellen eingeforderten Zielsetzung der nächsten Bundesregierung als Ausbauplan der Grundrechtskataloge anzudenken. Nur müssen hier Vorarbeiten stattfinden, weil Schnellschüsse in der Verfassung oft Schaden oder kaum Nutzen stiften. Vor einer Kodifikation muss immer erwogen werden, ob es sich um justiziable Rechte handelt, sonst bleibt es bei Lippenbekenntnissen. Ein moderner Grundrechtskatalog wäre eine Option der nahen Zukunft.