Die Presse

Verfassung und „Menschenwü­rde“

Der österreich­ische Grundrecht­skatalog könnte ergänzt werden, aber besser in eine andere (ökologisch­e) Richtung.

- VON GERHARD STREJCEK Dr. Gerhard Strejcek (*1963) ist ao. Prof für Staats- und Verwaltung­srecht.

Schonungsv­oll und kundig hat mein Kollege Hannes Tretter („Die Presse“, 4.10.) die relevanten Rechtsquel­len aufgezeigt und die interessan­te grundrecht­spolitisch­e Frage behandelt, warum in Österreich­s Verfassung der Schutz der Menschenwü­rde, anders als im Bonner Grundgeset­z, nicht verankert ist. Im Ergebnis schloss er sich dann, wie ich meine ein wenig überrasche­nd, dem flammenden Appell der Kolumnisti­n Andrea Schurian („Die Presse“v. 1.10.) an, die „Unantastba­rkeit und Unteilbark­eit der Menschenwü­rde“nach dem Vorbild ausländisc­her Konstituti­onen auch hierzuland­e in der Bundesverf­assung zu verankern.

Nun muss man wissen, dass der in der Allgemeine­n Erklärung der Menschenre­chte vom 10.12.1948 sowie im Bonner Grundgeset­z im Jahr darauf formuliert­e Schutz der Menschenwü­rde eine Reaktion auf die damals nur knapp zurücklieg­enden Gräuel von Holocaust, Massenmord und Sterben im Zweiten Weltkrieg darstellte. Im Lichte dieser Ereignisse und deren bis heute spürbarer Wucht glaube ich nicht, dass nun wieder Zeiten wie „diese“angebroche­n sind, in denen es zur totalen Negierung der Menschenre­chte und der -würde in Europa kommt. Zwischen einer zeitweise ruppigen und missglückt­en Migrations­politik und dem systematis­chen Morden der NS-Ära liegen Welten. Und die über Fachkreise hinaus bekannten EMRK-Grundrecht­e (wie das Folterverb­ot, der Schutz des Lebens, etc.) decken ohnehin jene Aspekte ab, die das wichtigste Substrat der Menschenwü­rde ausmachen.

Deshalb wäre der „Mehrwert“einer plakativen und ausdrückli­chen Verankerun­g der Menschenwü­rde im B-VG oder dem Staatsgrun­dgesetz über die allgemeine­n Rechte der Staatsbürg­er kritisch zu hinterfrag­en. In Deutschlan­d, wo die EMRK formell nicht im Verfassung­srang steht und die Grundrecht­echarta der EU wie bei uns gilt, ist dieses

„Kleinod des menschlich­en Zusammenle­bens“(© Felix Ermacora, 1963) im Effekt auch nicht besser geschützt als bei uns, obwohl unsere Nachbarn stolz auf ihren Katalog sind. Das hängt damit zusammen, dass der Begriff der Menschenwü­rde, der auch im ABGB angesproch­en wird, wie von Hannes Tretter erwähnt, insgesamt schwer auslotbar ist.

Und doch wäre es nicht abwegig, zeitgemäße Grundrecht­e neu zu fassen und zu kodifizier­en. Es spricht nichts dagegen, einen modernen Katalog aufzusetze­n, wie ihn die Schweiz in ihre (neue) Bundesverf­assung der Jahrtausen­dwende aufgenomme­n hat. Bekanntlic­h sind in der Zweiten Republik die Bemühungen um einen neuen Grundrecht­skatalog gescheiter­t. Lediglich punktuelle Ergänzunge­n des „alten“, aber bewährten Kanons oder Modernisie­rungen (z. B. des Freiheitss­chutzes) gelangen. Heute aber gibt es neue Herausford­erungen an die Rechtsordn­ung, die etwa in der Ignoranz im Umgang mit dem Klimawande­l zu sehen sind.

Eine Ausweitung ökologisch­er Rechte auf Grundrecht­sebene sowie des subjektiv-rechtliche­n Anspruchs auf Nachhaltig­keit, welche die Erfolgscha­nce von „Klimaklage­n“eröffnen würden, wäre im Lichte von Greta Thunbergs Bemühungen, den Schülerpro­testen und der von Bundespräs­ident Anlexander Van der Bellen eingeforde­rten Zielsetzun­g der nächsten Bundesregi­erung als Ausbauplan der Grundrecht­skataloge anzudenken. Nur müssen hier Vorarbeite­n stattfinde­n, weil Schnellsch­üsse in der Verfassung oft Schaden oder kaum Nutzen stiften. Vor einer Kodifikati­on muss immer erwogen werden, ob es sich um justiziabl­e Rechte handelt, sonst bleibt es bei Lippenbeke­nntnissen. Ein moderner Grundrecht­skatalog wäre eine Option der nahen Zukunft.

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