Die Geschichte einer Enttäuschung oder: Vernachlässigte Ost-EU
15 Jahre sind seit der Aufnahme Polens, Tschechiens, Ungarns und der Slowakei vergangen. Warum ihre verletzte „Würde“eine so große Rolle spielt.
Die Frage kam wie aus dem Nichts. Kalt erwischt, nennt man das gemeinhin. Bei einem „Europa: Dialog“im Haus der Europäischen Union wollte jemand wissen, warum in der EU immer nur vom Westen die Rede sei; warum die Mitgliedsstaaten im östlichen Teil Europas kaum vorkämen. Jedenfalls nicht positiv. Warum kümmere sich der westliche Teil der Union nicht?
Gute Frage, lautet da die floskelhafte Antwort gemeinhin. Doch dabei kann man es nicht belassen, zumal das Ergebnis der Parlamentswahl in Polen vergangenen Sonntag, die absolute Mehrheit für die nationalkonservative Partei Recht und Gerechtigkeit (Pis), und die Kommunalwahlen in Ungarn die Punktstrahler wieder gegen Osten gedreht haben. Tschechien und die Slowakei bleiben im Moment außerhalb des Lichtkegels. 15 Jahre nach dem EU-Beitritt dieser vier Länder scheinen sie mehrheitlich weiter von der Union entfernt als in irgendeiner Phase der Beitrittsverhandlungen.
Die Geschichte einer Enttäuschung? In einigen Erkenntnissen seit 2004 lassen sich Antworten finden. Es gibt ja in der Politik – wie in zwischenmenschlichen Beziehungen – eine nonverbale Kommunikation. Die Staaten der EU-Erweiterungen von 2004 und 2007 (Rumänien, Bulgarien) haben offenbar das Gefühl nie überwunden, vom Westen wie die armen Verwandten behandelt zu werden. Auch deshalb wird dort oft und mit Nachdruck auf die „Würde“des eigenen Landes gepocht.
Die Tatsache, dass die West-EU den Demokratisierungsprozess im Osten mit der Aufnahme in die Verwandtschaft als abgeschlossen erachtete und sich nicht weiter darum kümmerte, kam bei den neuen Mitgliedern als Gleichgültigkeit an, nicht nur der Institutionen in Brüssel, sondern auch der Bevölkerungen im Westen.
Mit dem Grad der wachsenden Enttäuschung sank offenbar das Vertrauen in die Demokratie. Warum sollte diese liberale Demokratie sakrosankt sein, wenn sich der Westen so wenig um ihre Verankerung und Verfestigung in ehemaligen Diktaturen kümmert?
Trotz der üppigen finanziellen Mittel, die von Brüssel nach Osten ausgeschüttet wurden, fühlen die betreffenden Staaten sich nach wie vor schlecht behandelt. Vermeintlich verletzte „Würde“kann mit einer Politik der offenen Hand nicht kompensiert werden.
Das stellt die EU verblüfft fest, seit vor allem in Polen und Ungarn ihre Werte von Unabhängigkeit der Justiz, Medienfreiheit, Anti-Nationalismus, Anti-Diskriminierung und liberaler Demokratie wenig zählen; dies von der Bevölkerung noch dazu mehrheitlich goutiert wird.
Will man die Psychologie in der Politik auf die Spitze treiben, so könnte man meinen, die West-Fixierung der EU entspringe – einem schlechten Gewissen. Man weiß nicht genau, wie mit dieser Missachtung der Spielregeln umzugehen ist. Deshalb drängt man sie an den Rand der Aufmerksamkeit oder findet immer neue Begründungen dafür, warum so lax reagiert wird; warum Ressentiments, Hetze, Ausländerfeindlichkeit innerhalb der Union toleriert werden.
Nach 15 Jahren stellt sich nun heraus, dass die Bevölkerung dieser Mitgliedsstaaten nie wirklich im EU-Haus angekommen ist. In Brüssel hat man sie durch die Tür gebeten, dann aber wie lästige Verwandte geflissentlich „übersehen“. Das mag an mangelnder Kenntnis, geringem Interesse, schlechtem Sprachvermögen gelegen sein.
Die Konsequenz ist jedenfalls – am wenigsten noch in der Slowakei – ein Abwenden vom Westen und ein Hinwenden zu einer angeblich gloriosen Vergangenheit unter Ausblenden der Jahre kommunistischer Herrschaft.
Angesichts der Bocksprünge, mit denen Großbritannien seit Jahren die EU via Brexit in Atem gehalten hat, könnte man den Ost-EU-Staaten zynisch raten: Droht mit Austritt! Das bringt zwar nicht das polnische Königreich oder Großungarn zurück, aber mehr Aufmerksamkeit.