Ein Tag wie in Zeitlupe
Drei Jahre vor der Wende das erste Mal Berlin: Die DDR „feierte“gerade 25 Jahre Mauerbau. Hoffnung war keine, und in der Erinnerung blieben nur Grautöne zurück.
Die Mauer sah ich zum ersten Mal am 25. August 1986. Gleich hinterm Reichstag, wo unzählige Kreuze auf gescheiterte Fluchtversuche und menschliche Tragödien aufmerksam machten. Bald danach schon die ersten Graffiti und Sprüche wie „Deutschland, bleiche Mutter . . .“oder „Russen raus aus Afghanistan“. Uns in Österreich hatte der Kalte Krieg damals kaum interessiert, und trotz der 25 Jahre, die sie nun gerade bestand, war auch die Mauer kein großes Thema, obwohl zwei Wochen vorher viel von ihr in den Medien berichtet wurde. Aber sie betraf uns nicht. Die Mauer war schon da, als ich geboren wurde, und sie würde vermutlich auch nach mir noch stehen.
Damals beherrschten die Proteste gegen das bayrische AKW Wackersdorf und die geplante Wiederaufbereitungsanlage die Tagespolitik. Als wir am frühen Vormittag des 24. August, einem Sonntag, am Grenzübergang vor Passau standen, war kein einziges Auto vor uns, das nach Deutschland wollte; trotzdem dauerte der Grenzübertritt eine kleine Ewigkeit. Die Beamten hielten uns wohl für Berufsdemonstranten, die sich auf dem Weg nach Wackersdorf befanden. Wir vier waren damals alle Anfang/Mitte 20, wir waren auch überzeugte Atomkraftgegner, aber wie „linke Chaoten“sahen wir nicht aus.
Später, an der innerdeutschen Grenze, ging alles viel schneller, für die Grenzpolizisten der DDR waren wir uninteressant und in Westberlin erst recht unverdächtig. Nach außen hin schien die Stadt wenig mit der bundesdeutschen Wirklichkeit zu tun zu haben. Westberlin war wie eine Insel, ein fast der politischen Gegenwart enthobener
Kleinstaat, der von der Bundesrepublik so weit entfernt war wie gefühlsmäßig von Berlin-Ost. „Drüben“fing eine andere Welt, eine andere Zeit an, das konnte ich Tage später, am 28. August, erleben: Die Menschen in Ostberlin waren nicht nur anders gekleidet, sie bewegten sich auch anders auf der Straße, viel langsamer, so kam es mir vor, weil sie vielleicht wussten, dass sie in ihrem Leben ohnehin nichts versäumen konnten. Vermutlich hatte die Perspektivlosigkeit auch ihre Geschwindigkeit bestimmt, und wohl auch die Kommunikation: Die Menschen standen herum oder gingen stumm und unauffällig ihrer Wege. Jedenfalls in meiner Erinnerung geschieht dieser eine Tag Ostberlin fast lautlos, wie in Zeitlupe.
Schon der Grenzpolizist am Checkpoint Charlie gab sich wortkarg und machte einen gelangweilten, unfreundlichen Eindruck. Ich hatte ihn gefragt, wie das mit dem Fotografieren sei. „So wie bei Ihnen zu Hause.“Und auf Nachfrage: dass ich keine amtlichen Gebäude, keine Bahnhöfe fotografieren dürfe, was mich zu der kecken Antwort verleitete, er könne gerne einmal nach Österreich kommen und von jedem Bahnhof ein Foto machen. Natürlich war das kindisch, ihm auf diese Art demonstrieren zu wollen, dass ich im Unterschied zu ihm in einem freien Land lebe. Er ließ sich ohnehin auf keine Diskussion ein. Ob ich Bücher, Magazine aus dem Westen mit mir führe? Ich hatte nur meinen Fotoapparat umgehängt und den Berlin-Plan in der Hand. Aber er sah mich ja nicht einmal an.
Und die Volkspolizei? In der Pension nahe dem Kurfürstendamm hatte mir die Rezeptionistin am Morgen gesagt: „Drüben werden Sie auf Schritt und Tritt überwacht.“Ich blickte mich ein paar Mal um, konnte aber nie einen Polizisten entdecken, der mich beobachtete, gar verfolgte. Manchmal schielten die Leute im Vorbeigehen auf meinen Fotoapparat, eine Canon, damit war ich als Westler erkennbar Ich ging die Fried eine Nebenstraße blickte, noch Bombenschäden aus dem Zweiten Weltkrieg sehen, ausgebrannte Häuser, die Fassaden übersät mit Einschusslöchern. Durfte man Ruinen fotografieren in der DDR?
Minuten später sahen mich riesige Bilder von Marx und Lenin an: Ich stand in einer Buchhandlung, in der man als Einzelner gleich wieder verschwand. Hohe, weite, lichtdurchflutete Räume. Überall aufgetürmte Bücherstapel, die üblichen Marxund Leninausgaben. War das noch Theorie oder schon real existierender Sozialismus? Und wie war das mit der merkwürdigen, fast biedermeierlichen Noblesse, die mir kurz darauf im Egon-Erwin-Kisch-Cafe´ am Pariser Platz begegnete? Die Ober livriert, die Sitzmöbel mit aus der Zeit gefallenen weinroten und braunen Bezügen. Ich saß da und trank den gleichen schalen Einheitskaffee Marke Ostblock, der mir schon von Ungarn her bekannt war. Als ich später die Toilette im Souterrain aufsuchte, war ich verwundert, dass ich zweimal zur Kasse gebeten wurde und fürs Händewaschen mehr zahlen musste als für die Toilettenbenützung. Draußen patrouillierte dann doch die Volkspolizei: Auch auf dieser Seite konnte man dem Brandenburger Tor nicht in die Nähe kommen, mehrere Reihen Absperrgitter zeigten an, dass Ostberlin hier auch schon wieder zu Ende war.
Aber die Situation des Eingesperrtseins musste mich nicht berühren: In der Behrenstraße wollte mir ein junger Mann meinen Stadtplan abkaufen, er wollte viel mehr bezahlen, als der Faltplan überhaupt wert war. Ich verstand nichts in diesem Augenblick. Ohne die Straßenkarte wähnte ich mich verloren und ging auf sein Angebot – in Wahrheit eine verzweifelte Bitte – nicht ein. Erst als ich am Abend in meiner Pension der Rezeptionistin davon erzählte, wurde mir klar: Es gab drüben keine Stadtpläne von Gesamt Berlin und der junge Mann wollte aussah. War das so schwer zu begreifen? Noch am Vortag hatte ich nahe dem Brandenburger Tor ein Transparent fotografiert, auf dem stand: „Herr Honecker, lassen Sie Karin und Frank endlich in den freien Teil Deutschlands!“
Ich war naiv. Ich wollte in die Humboldtuniversität hineingehen und die Themen der Vorlesungen studieren, neugierig, was für Germanistikstudenten, wie ich einer war, in der DDR auf dem Lehrplan stand. Aber schon am Eingang wurde ich abgewimmelt. Der Pedell, mit grauem Mantel und grauer Schirmmütze, winkte mich sofort wieder hinaus, als ich ihm keinen ostdeutschen Studentenausweis vorzeigen konnte. Kurz darauf stand ich vor der Neuen Wache und beobachtete das Zeremoniell der beiden Soldaten, die unbeweglich wie Steinfiguren die antifaschistische Flamme bewachten, den Blick geradeaus ins Nichts gerichtet. Alle paar Minuten, wenn eine Sirene ertönte, durften sie kurz ihre Haltung ändern, indem sie in einer eingeübten Bewegung das Gewehr von der rechten in die linke Hand wechselten, den Blick auch dabei unverändert.
Das war Klischee-DDR, die eigentlich real existierende fand man in den weniger „aufgeräumten“Nebenstraßen, wo alles nach Oststaatentristesse aussah und die Menschen genauso grau wie die Häuser waren, die Straßen als Ganzes schienen resigniert zu haben. Ich kam an einem kleinen Lebensmittelladen vorbei, vor dem Frauen mit großen Taschen Schlange standen. Dabei gab es nur vier Sorten Gemüse zu kaufen: Erdäpfel, Kohl, Gurken und Tomaten, in so geringer Menge und in einer Qualität, die bei uns in keine Stellage eines Supermarkts gekommen wären. Jahre später, lang nach der Wende, erzählte mir ein ehemaliger DDR-Bürger, wie die Verhältnisse damals wirklich waren. Seine Eltern hatten in einer sächsischen Kleinstadt einen Fleischerladen betrieben, den sie fast schon hatten aufgeben müssen, weil nirgendwo mehr ordentliche Fleischermesser zu bekommen waren. Es fehlte am Einfachsten.
Was konnte man mit Geld eigentlich kaufen? Auch nach dem Besuch im Ägyptischen und im Pergamonmuseum und nach dem
Dass drei Jahre später die Mauer fallen sollte, das schien uns damals unmöglich. Das war ferne Zukunft, vielleicht in der nächsten Generation.
für Westtouristen betriebenen Restaurant am Alexanderplatz hatte ich nach dem Zwangsumtausch am Grenzübergang noch immer Ostmark in der Tasche, DDRGeld, das man nicht mit hinübernehmen durfte und das im Westen ohnehin wertlos war. Ich weiß noch, wie ich mit meiner Schwägerin kurz vor dem Checkpoint Charlie in einen Supermarkt ging, um die letzten Mark- und Pfennigmünzen loszuwerden. Aber was sollten wir dort kaufen? Die Verkäuferinnen, die braune Plastikmäntel trugen, beobachteten uns schon die ganze Zeit. Wenigstens ein paar Tafeln Schokolade, dachte ich. Es gab nur zwei Sorten, und die waren in so unansehnliches dickes Papier eingeschlagen, dass uns auch das nicht ansprach. Irgendetwas haben wir dann doch genommen, und beim Zahlen haben wir alle unsere Münzen auf den Kassentisch gelegt, wir wollten kein Retourgeld annehmen. Die Kassierin sagte nichts, schüttelte nur empört den Kopf.
Ausgerechnet am selben Abend, nachdem wir wieder in die Normalität zurückgekehrt waren, besuchten wir das legendäre Kaufhaus des Westens, nicht nur aus kommunistischer Perspektive ein kapitalistischer Tempel des Luxus. Ich weiß nicht, was sich die „Ossis“dachten, als sie dann das erste Mal über die Grenze und auf einem ihrer Streifzüge durch das Warenangebot des Westens auch das KaDeWe stürmten. Allein in der Käseabteilung lagen Hunderte verschiedener Sorten zur Auswahl . . .
Aber es war nicht dieser unmittelbare Wechsel in die Welt des Überflusses, der mir die andere Welt so grau und öd und diesen einen Tag Ostberlin zum deprimierenden Erlebnis machte. Es war der Eindruck der Menschen, die nicht nur von Mauern, sondern auch in der Lethargie ihres hoffnungslosen Alltags eingesperrt waren. Wieder zu Hause las ich in der Zeitung, dass am selben Abend, kurz nachdem wir den Checkpoint Charlie zurück in den Westen passiert hatten, ein DDR-Bürger mit seinem Auto versucht hatte, die Grenzsperre zu durchfahren. Ein verzweifelter, aussichtsloser Fluchtversuch, wie er in der ostdeutschen Wirklichkeit dann und wann vorkam. Dass sich daran in absehbarer Zeit etwas ändern, dass drei Jahre später gar die Mauer fallen sollte, das schien uns damals unmöglich. Und doch schnitten wir auf der Heimfahrt das Thema an, aber das war ferne Zukunft, vielleicht in der nächsten Generation, sagten wir uns.
Ich hatte auch in Ostberlin fotografiert, nicht viel, ich hatte zu dieser Zeit Schwarzweiß-Filme bevorzugt. Aber von den drei Filmen, die ich aus Berlin mitbrachte, hatte ich nie Bilder ausarbeiten lassen. Ich weiß nicht, warum. Wenn ich heute die Negativstreifen gegen das Licht halte, sehe ich die Grautöne von damals wieder. Das Grau des Ostens im doppelten Sinn.
Es dauerte 15 Jahre, bis ich wieder nach Berlin kam. Als ich im Dezember 2001 mit ganz anderen Vorstellungen im ehemaligen Ostteil umherging, deprimierte mich etwas anderes. Bestimmte Häuser, Straßen, die sich mir eingeprägt hatten, waren nicht mehr auffindbar. Ich wollte in die Buchhandlung gehen, wo einen die großen Marx- und Leninporträts ständig im Blick hatten. Ich glaubte sie am Ende der Friedrichstraße, konnte aber auch sie nicht mehr finden. Dann wollte ich mich ins Egon-Erwin-KischCafe´ setzen und diesmal einen richtigen Kaffee trinken. Aber dort war nun eine Starbucks-Filiale. Mit dem Kisch-Cafe´ waren ebenso die einzigen Farbtöne, Weinrot und Braun, die Ostberlin in meiner Erinnerung hat, verschwunden.
Geboren 1964 in Amstetten. Studium der Germanistik und Geschichte in Wien. Dr. phil. mit einer Dissertation über Julian Schutting. Zahlreiche Veröffentlichungen zur österreichischen Geschichte. Mitarbeit an Ausstellungen. Bücher: u. a. „Oswiecim. Reise nach Au“(Literaturedition Nieder