Raus aus der Stube! Die intellektuelle Camouflagebrigade
Ehemals Etabliertes scheint nicht mehr sicher, vieles wird „von unten“infrage gestellt. Und wo bleibt die intellektuelle Elite? Wird sie ihr gesellschaftliches Vampirleben aufgeben und sich ans Tageslicht wagen? Eine Suche.
Die Zeiten sind unruhig: Regierungsschwierigkeiten, Brexit, das Erstarken rechtsnationaler Kräfte. Das ehemals Etablierte scheint nicht mehr sicher, „von unten“wird vieles infrage gestellt. Andererseits lenkt die politische Flotte, abgesehen von einigen spärlichen Versuchsschlenkern, nicht von ihrem Kurs ab. Obschon Wasser in das politische Schiff läuft, der Matrose „Land in Sicht“ruft, bleibt die politische Mannschaft weiterhin auf hoher See, trotz besseren Wissens und Gewissens. „Es muss was geschehen, aber es darf nix passieren“, des österreichischen Schriftstellers Franz Grillparzer lautet ihr Motto. Daher erfreut sich das „Sankt-Florian-Prinzip“großer politischer Beliebtheit. Statt Lösungen von potenziellen Bedrohungen oder Problemen zu finden, werden diese auf andere, oder noch besser, auf ominöse Kräfte verschoben. Das zeugt vom Verhalten desjenigen, der nicht weiß, was er tun soll.
Wo sich das Problem versteckt? Möglicherweise im Verwechslungsspiel der Eliten. Wer als Intellektueller anerkannt ist, gehört selten zur intellektuellen Elite. Die Globalisierung lässt viele Prozesse verschwimmen, undurchsichtig erscheinen, die Wirkungen des eigenen Handelns können schwer vorhergesagt werden, nicht nur für sich selbst, sondern auch für andere Beteiligte.
Wirtschaftliche Eliten repräsentieren die Machteliten, aber nicht notwendigerweise intellektuelle Eliten. Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich plädiere nicht für eine Regierung durch Philosophen, wie es etwa Platon intendierte. Vielmehr möchte ich auf die marginale beziehungsweise nichtige gesellschaftliche Kraft des Intellektuellen, eine gesellschaftliche Geringschätzung ihm gegenüber trotz gesellschaftlicher Bedeutsamkeit für die Demokratie hinweisen. Mit dem Intellektuellen meine ich nicht die intellektuelle Camouflagebrigade von Philosophen, Schriftstellern oder Wissenschaftlern, die sich auf den Bühnen des Lebens („Wir alle spielen Theater“, Ervin Goffman) medial zu inszenieren verstehen und als intellektuelle Elite anerkannt werden. Vielmehr entscheidet die geistige Berufung, ob jemand zur intellektuellen Elite gehört oder nicht, nicht die gesellschaftliche Stellung oder der Beruf.
Karl Mannheim wies mit seiner „freischwebenden Intelligenz“darauf hin, die überall, über alle soziale Schichten verteilt, zu finden ist. Gegenwärtig besiedeln wirtschaftsorientierte Hobbyintellektuelle, Gebildete mit Halbwissen, gepaart mit einem großen Schuss pseudointellektueller Hybris, gesellschaftliche Positionen und vereinnahmen für sich mediale Sprachrohre.
Die intellektuelle Elite hat sich gesellschaftlich verkrochen. Nicht „der eingebildete Kranke“Moli`eres überrennt uns, sondern „der eingebildete Intellektuelle“, der nichts von sich, aber von den anderen abverlangt, der nicht imstande ist, gesellschaftliche Probleme zu lösen, sondern sie lösen lässt. Wie kam es dazu? Die intellektuelle Elite nahm sich offensichtlich Ortega y Gassets Vorschlag der 1930er-Jahre zu sehr zu Herzen, sie solle sich aus öffentlichen Angelegenheiten in ihr privates Stübchen zurückziehen. Die Dominanz der „instrumentellen Vernunft“Horkheimers, in der nur Raum für das reine Funktions- und Nützlichkeitsdenken besteht, förderte den Rückzug der Intellektuellen. Statt ihres unabhängigen Denkens trat das konforme Denken („Normopathie“, Hans-Joachim Maaz) in den Vordergrund. Um mit David Riesman zu sprechen: Derjenige brilliert, der seinen inneren Kompass stets nach außen, an die Meinung, die Einstellung, den Geschmack der anderen ausgerichtet hat. Mit Horaz‘ „sapere aude“, Kants „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“, einer Kerneigenschaft des Intellektuellen, hat das wenig zu tun. Wenn sie nicht gefragt wird, weil sie nicht der Marktlogik entspricht, weil sie keine gesellschaftlichen Schlüsselpositionen anstrebt und weil es ihr unabhängiges Denken zerstört: Wo bleibt die intellektuelle Elite? Somit entsteht der perfekte Nährboden für die gegenwärtig zu beobachtende intellektuelle Barbarei, die wie wild um sich greift.
Die übersteigerte Fixierung auf Klicks, Likes und Follower verdeutlicht dies. Das Intellektuelle lässt sich nicht quantitativ bemessen, ebenso wenig wie das Schöne oder das Gute. Nur wenige besitzen die Fähigkeit, intellektuelle, ästhetische oder moralische Meisterleistungen zu erzielen und zu würdigen. Gilbert Ryle würde von einem Kategorienfehler sprechen, die Freizeitintellektuellen von Unsinn. Wo bleibt also die intellektuelle Elite? Wird es nicht langsam Zeit für sie, ihr Vampirleben aufzugeben, sich aus ihrem verstaubten Kämmerlein ans gesellschaftliche Tageslicht zu wagen? Genügend Blut in Form von intellektueller Nahrung hat sie in den vergangenen Jahrzehnten aufgenommen, Aufgaben gibt es wie Sand am Meer. Genauso viel, wie es jene gibt, die sich als Intellektuelle aufspielen. Mit halbgebildetem Wissen, polyglott und rhetorisch gewandt, blendet er sein Umfeld: der „Fake Intellectual“. Er ist hier nur schwerlich vom echten Intellektuellen zu unterscheiden. Weil es nicht um die Tiefe eines Problems geht, sondern um das oberflächliche Anknabbern dieses, besteht auch nicht die Notwendigkeit, den Intellektuellenschwindler vom echten zu unterscheiden.
Doch mit Witz und Charme, oberflächlicher Analyse und Schnelligkeit sind gesellschaftliche Probleme nicht zu lösen. Oder anders formuliert: Um ein sinkendes Schiff zu bergen, bedarf es mehr als nur intellektuellen Schein, gute Laune und Optimismus. Mit logischer Denkfähigkeit, physikalischem Wissen und Vorstellungskraft stehen die Chancen jedenfalls höher, das Schiff vor dem Sinken zu bewahren oder zumindest die Mannschaft sicher an Land zu bringen. So übersteht das Schiff auch den schwersten Wellengang möglichst unbeschadet. Wenn also die intellektuelle Elite zum „Mit-Sinken“verdammt ist: Wo bleibt euer Aufstand?