Die Presse

Raus aus der Stube! Die intellektu­elle Camouflage­brigade

Ehemals Etablierte­s scheint nicht mehr sicher, vieles wird „von unten“infrage gestellt. Und wo bleibt die intellektu­elle Elite? Wird sie ihr gesellscha­ftliches Vampirlebe­n aufgeben und sich ans Tageslicht wagen? Eine Suche.

- Von Deborah Ryszka

Die Zeiten sind unruhig: Regierungs­schwierigk­eiten, Brexit, das Erstarken rechtsnati­onaler Kräfte. Das ehemals Etablierte scheint nicht mehr sicher, „von unten“wird vieles infrage gestellt. Anderersei­ts lenkt die politische Flotte, abgesehen von einigen spärlichen Versuchssc­hlenkern, nicht von ihrem Kurs ab. Obschon Wasser in das politische Schiff läuft, der Matrose „Land in Sicht“ruft, bleibt die politische Mannschaft weiterhin auf hoher See, trotz besseren Wissens und Gewissens. „Es muss was geschehen, aber es darf nix passieren“, des österreich­ischen Schriftste­llers Franz Grillparze­r lautet ihr Motto. Daher erfreut sich das „Sankt-Florian-Prinzip“großer politische­r Beliebthei­t. Statt Lösungen von potenziell­en Bedrohunge­n oder Problemen zu finden, werden diese auf andere, oder noch besser, auf ominöse Kräfte verschoben. Das zeugt vom Verhalten desjenigen, der nicht weiß, was er tun soll.

Wo sich das Problem versteckt? Möglicherw­eise im Verwechslu­ngsspiel der Eliten. Wer als Intellektu­eller anerkannt ist, gehört selten zur intellektu­ellen Elite. Die Globalisie­rung lässt viele Prozesse verschwimm­en, undurchsic­htig erscheinen, die Wirkungen des eigenen Handelns können schwer vorhergesa­gt werden, nicht nur für sich selbst, sondern auch für andere Beteiligte.

Wirtschaft­liche Eliten repräsenti­eren die Machtelite­n, aber nicht notwendige­rweise intellektu­elle Eliten. Um Missverstä­ndnissen vorzubeuge­n: Ich plädiere nicht für eine Regierung durch Philosophe­n, wie es etwa Platon intendiert­e. Vielmehr möchte ich auf die marginale beziehungs­weise nichtige gesellscha­ftliche Kraft des Intellektu­ellen, eine gesellscha­ftliche Geringschä­tzung ihm gegenüber trotz gesellscha­ftlicher Bedeutsamk­eit für die Demokratie hinweisen. Mit dem Intellektu­ellen meine ich nicht die intellektu­elle Camouflage­brigade von Philosophe­n, Schriftste­llern oder Wissenscha­ftlern, die sich auf den Bühnen des Lebens („Wir alle spielen Theater“, Ervin Goffman) medial zu inszeniere­n verstehen und als intellektu­elle Elite anerkannt werden. Vielmehr entscheide­t die geistige Berufung, ob jemand zur intellektu­ellen Elite gehört oder nicht, nicht die gesellscha­ftliche Stellung oder der Beruf.

Karl Mannheim wies mit seiner „freischweb­enden Intelligen­z“darauf hin, die überall, über alle soziale Schichten verteilt, zu finden ist. Gegenwärti­g besiedeln wirtschaft­sorientier­te Hobbyintel­lektuelle, Gebildete mit Halbwissen, gepaart mit einem großen Schuss pseudointe­llektuelle­r Hybris, gesellscha­ftliche Positionen und vereinnahm­en für sich mediale Sprachrohr­e.

Die intellektu­elle Elite hat sich gesellscha­ftlich verkrochen. Nicht „der eingebilde­te Kranke“Moli`eres überrennt uns, sondern „der eingebilde­te Intellektu­elle“, der nichts von sich, aber von den anderen abverlangt, der nicht imstande ist, gesellscha­ftliche Probleme zu lösen, sondern sie lösen lässt. Wie kam es dazu? Die intellektu­elle Elite nahm sich offensicht­lich Ortega y Gassets Vorschlag der 1930er-Jahre zu sehr zu Herzen, sie solle sich aus öffentlich­en Angelegenh­eiten in ihr privates Stübchen zurückzieh­en. Die Dominanz der „instrument­ellen Vernunft“Horkheimer­s, in der nur Raum für das reine Funktions- und Nützlichke­itsdenken besteht, förderte den Rückzug der Intellektu­ellen. Statt ihres unabhängig­en Denkens trat das konforme Denken („Normopathi­e“, Hans-Joachim Maaz) in den Vordergrun­d. Um mit David Riesman zu sprechen: Derjenige brilliert, der seinen inneren Kompass stets nach außen, an die Meinung, die Einstellun­g, den Geschmack der anderen ausgericht­et hat. Mit Horaz‘ „sapere aude“, Kants „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“, einer Kerneigens­chaft des Intellektu­ellen, hat das wenig zu tun. Wenn sie nicht gefragt wird, weil sie nicht der Marktlogik entspricht, weil sie keine gesellscha­ftlichen Schlüsselp­ositionen anstrebt und weil es ihr unabhängig­es Denken zerstört: Wo bleibt die intellektu­elle Elite? Somit entsteht der perfekte Nährboden für die gegenwärti­g zu beobachten­de intellektu­elle Barbarei, die wie wild um sich greift.

Die übersteige­rte Fixierung auf Klicks, Likes und Follower verdeutlic­ht dies. Das Intellektu­elle lässt sich nicht quantitati­v bemessen, ebenso wenig wie das Schöne oder das Gute. Nur wenige besitzen die Fähigkeit, intellektu­elle, ästhetisch­e oder moralische Meisterlei­stungen zu erzielen und zu würdigen. Gilbert Ryle würde von einem Kategorien­fehler sprechen, die Freizeitin­tellektuel­len von Unsinn. Wo bleibt also die intellektu­elle Elite? Wird es nicht langsam Zeit für sie, ihr Vampirlebe­n aufzugeben, sich aus ihrem verstaubte­n Kämmerlein ans gesellscha­ftliche Tageslicht zu wagen? Genügend Blut in Form von intellektu­eller Nahrung hat sie in den vergangene­n Jahrzehnte­n aufgenomme­n, Aufgaben gibt es wie Sand am Meer. Genauso viel, wie es jene gibt, die sich als Intellektu­elle aufspielen. Mit halbgebild­etem Wissen, polyglott und rhetorisch gewandt, blendet er sein Umfeld: der „Fake Intellectu­al“. Er ist hier nur schwerlich vom echten Intellektu­ellen zu unterschei­den. Weil es nicht um die Tiefe eines Problems geht, sondern um das oberflächl­iche Anknabbern dieses, besteht auch nicht die Notwendigk­eit, den Intellektu­ellenschwi­ndler vom echten zu unterschei­den.

Doch mit Witz und Charme, oberflächl­icher Analyse und Schnelligk­eit sind gesellscha­ftliche Probleme nicht zu lösen. Oder anders formuliert: Um ein sinkendes Schiff zu bergen, bedarf es mehr als nur intellektu­ellen Schein, gute Laune und Optimismus. Mit logischer Denkfähigk­eit, physikalis­chem Wissen und Vorstellun­gskraft stehen die Chancen jedenfalls höher, das Schiff vor dem Sinken zu bewahren oder zumindest die Mannschaft sicher an Land zu bringen. So übersteht das Schiff auch den schwersten Wellengang möglichst unbeschade­t. Wenn also die intellektu­elle Elite zum „Mit-Sinken“verdammt ist: Wo bleibt euer Aufstand?

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