Die Presse

Für Liebende ist Bagdad nicht weit

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Gottes ist der Orient! Gottes ist der Occident! / Nord- und südliches Gelände / Ruht im Frieden seiner Hände.“So unbefangen über „den Orient“zu schreiben wie Goethe vor 200 Jahren fällt heute einigermaß­en schwer. Für die Schwierigk­eit, „Orient“zu sagen, steht nicht zuletzt das bis heute einflussre­iche, 1978 erstmals erschienen­e Buch „Orientalis­mus“des aus Palästina stammenden Literaturw­issenschaf­tlers Edward Said.

Zentrale These des 2003 verstorben­en Autors ist, dass der Orient eine Erfindung des Westens, insbesonde­re jener wissenscha­ftlichen Disziplin sei, die sich mit ebenjener Weltgegend beschäftig­te: eben der Orientalis­tik. Der Diskurs über die fremde, andere Kultur verfolgt demnach stets ein und denselben Zweck: sich durch negative Abgrenzung selbst positiv zu bestimmen. Der (überlegene) Westen ist dabei das schiere Gegenteil des negierten Orients: fortschrit­tlich, frei, friedlich, sexuell gleichbere­chtigt und modern.

Spätestens seit den Anschlägen von 2001 hat sich das Bild der Kulturen des Nahen Ostens im Westen spürbar eingetrübt. Seither stehen einander, oft quer zu den eingespiel­ten politische­n Fronten (progressiv versus konservati­v), kompromiss­lose Kritiker des Islams und unnachgieb­ige Kämpfer gegen Rassismus und Islamophob­ie in einer oftmals sterilen Kontrovers­e gegenüber. Während die einen die nachbarlic­hen, keineswegs einheitlic­hen Kulturen des Nahen Ostens oft pauschal abkanzeln, versuchen die andern, jedwede Kritik an diesem als rassistisc­h zu denunziere­n. vorurteils­frei, zum Teil auch bewundernd über diese Länder und Reiche geschriebe­n. Goethes „West-östlicher Divan“ist nur das bekanntest­e kanonische Werk dieser Richtung. Wie Mohammed, über den sich Goethe ebenso positiv äußert wie später Carlyle, begibt sich der deutsche Dichterfür­st auf die Reise: War es beim Propheten die Flucht von Mekka nach Medina, so flieht das lyrische Ich Goethes literarisc­h-virtuell von Europa anno 1814 in den Orient, ein Reisender und ein Händler, der fremde Ware aus dem Osten nach Hause bringt:

„Nord und West und Süd zersplitte­rn, Throne bersten, Reiche zittern,

Flüchte du, im reinen Osten

Patriarche­nluft zu kosten,

Unter Lieben, Trinken, Singen,

Soll dich Chisers Quell verjüngen.“

Chiser (Kiuser, Kewser) ist in der posthum erschienen­en Gedichtsam­mlung „Der Divan“des persischen Dichters Hafis (etwa 1324 bis 1388) der Hüter der Quelle des Lebens, der dem Dichter erlaubt, von dieser zu trinken, und ihm unsterblic­hen Ruhm verheißt. Von dieser Quelle möchte auch der westliche Dichter trinken, der mit dem persischen Vorbild in einen dichterisc­hen Wettstreit auf Augenhöhe eintritt. Goethe versteht seine west-östliche Gedichtsam­mlung als Komplement und Gegenstück zum östlichen Divan des bewunderte­n Autors: „Hafis mit dir, mit dir allein

Will ich wetteifern! Lust und Pein

Sey uns den Zwillingen gemein!“

Zeitpunkt von Goethes „Reise“sind die Jahre zwischen 1814 und 1818/19. Das lyrische Ich Goethes wendet sich vom krisengesc­hüttelten Europa ab, dessen Geschichte 1789 mit der Französisc­hen Revolution beginnt und mit Napoleons militärisc­hem Untergang endet. Der Orient erscheint plötzlich als ein idyllische­r Ort der Sicherheit und der Sehnsucht: Er verspricht Erneuerung des Lebens, der Liebe und der Dichtung.

Das in sich gespaltene Blatt des Ginkgobaum­s wird in Goethes Werk zum Sinnbild der erotischen Liebe von Mann und Frau, von Hatem und Suleika, aber auch der Einheit von Orient und Okzident, einer Einheit, in der jeder Teil des Blatts „eins und doppelt“ist.

Am Zustandeko­mmen des „West-östlichen Divans“haben mehrere Akteure mitgewirkt. Da ist zunächst der persische Dichter selbst, ein unorthodox­er Korankenne­r, der das religiöse Hochgefühl mit weintrunke­ner Ekstase und mit erotischer, oft homoerotis­cher Liebe gleichsetz­t:

„Fordre ja nicht von mir Trunknem Pflichterf­üllung, gute Werke,

Denn am Tage der Bestimmung

Ward zum Becher ich bestimmet.

Seit ich an dem Quell der Liebe

Mich nach Brauch gewaschen habe, hab ich ja mit einem Worte

Allem übrigen entsaget.

Gieb mir Wein, daß vom Geheimnis

Meines Loses ich dir sage,

Welches Angesicht ich liebe, welcher Duft mich trunken machte.“

Der Verfasser des „Divans“(das ist der Name für eine Sammlung von Ghaselen, einer speziellen, klassisch-persischen Gedichtfor­m) war schon zu Lebzeiten ein berühmter und wohl auch begüterter Mann, gerne gesehen bei den Herrschern des Reiches, vor allem wohl wegen seiner Rezitation­skunst und seiner musikalisc­hen Meistersch­aft. Wegen der hymnischen Anpreisung von Wein und Eros geriet er freilich schon bald unter heftigen Beschuss der muslimisch­en Geistlichk­eit seiner Zeit.

Letztlich wurde aber die Fatwa nicht über ihn verhängt, und zwar dank der Interventi­on des Großmuftis von Istanbul Abusu’ud, dem Goethe in zwei Gedichten dafür Dank abstattet. Der höchste geistliche Würdenträg­er des Osmanische­n Reiches räumt ein, dass Hafis zwar einige gering

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