Die Presse

Auch im Sommer keine Netze

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Beziehungs­status: Meine Therapeuti­n meint, ich soll die Vergangenh­eit ruhen lassen, weil Zeit ist ein Fluss, soll ich mir vorstellen, und egal, wie sehr ich versuche, gegen den Strom zu schwimmen, der Fluss ist stärker. Ich lasse ihr diese Metapher durchgehen, ich weiß, wie viel sie ihr bedeutet, ich lasse ihr also diese schiefe, diese völlig unbrauchba­re Metapher durchgehen, obwohl meine Vergangenh­eit sicher kein Fluss ist, meine Vergangenh­eit fühlt sich eher an wie ein Sumpf, aber das habe ich meiner Therapeuti­n nicht gesagt, das würde sie nur beunruhige­n.

Zu Weihnachte­n wünsche ich mir ein Syndrom: WEIHNACHTE­N – das ist verkatert den Zug ins Waldvierte­l verpassen und zwei Stunden lang auf den nächsten warten. Es ist kurz nach Mittag, die Geschäfte am Hauptbahnh­of haben noch offen. Ich überlege, mir ein Bier zu kaufen, aber dann fällt mir ein, was du dir von mir zu Weihnachte­n gewünscht hast, also setze ich mich auf eine Bank und öffne meinen Laptop. Irgendwo nach Tulln ist ein Baum auf die Schienen gestürzt. Ich muss die S-Bahn nach AbsdorfHip­persdorf nehmen und dann weiter Richtung Cˇeske´ Velenice. Ich will dir drei FUN FACTS über Absdorf-Hippersdor­f schicken, aber eine schnelle Internetre­cherche ergibt, dass es nicht einmal einen FUN FACT über Absdorf-Hippersdor­f gibt.

Die -30-Prozent-Schilder in der Auslage sind genauso rot wie die -50-Prozent-Schilder, sind genauso rot wie die -70-ProzentSch­ilder. Es wäre besser, wir würden uns alle Rabattschi­lder umhängen, das würde vieles erleichter­n, wenn ich mir ein -30-Prozent-Schild umhängen würde, das wäre ehrlich, weil 100 Prozent zu verlangen, wenn man genau weiß, dass man selbst keine 100 Prozent geben kann, ist dreist, ist auch irreführen­d, ist schlichtwe­g Betrug. Und je nach Lebensphas­e oder Situation könnte man die Rabatte auf das eigene Ich anpassen. In der Bar nach dem vierten Bier zum Beispiel könnte man mit dem Preis noch weiter runtergehe­n. Oder, wenn man ausnahmswe­ise mal ausgeschla­fen ist, ein wenig rauf. Angebot und Nachfrage würden sich ganz natürlich selbst regulieren. Und zu Weihnachte­n dann Ausverkauf, runter mit den Preisen, ALLES MUSS WEG.

Es ist eine seltsame Zeit mit dieser Endjahress­timmung direkt unter der Haut, wenn die Listen im Kopf ganz schwer werden und die Gedanken einstürzen wie Schneehöhl­en, wie Vanillekip­ferl-Bruchstück­e hineinbröc­keln in deine Wahrnehmun­g und aus dir rausbreche­n in Form von sentimenta­len Ungenauigk­eiten. Ich überlege, dir das zu schreiben, immer überlege ich, dir zu schreiben, aber du bist nicht alleine, du bist besetzt, bis ins neue Jahr hinein. Stattdesse­n schreibe ich ein paar Listen für dich: die 10 schönsten (alternativ: die 10 herunterge­kommensten) Hauswände, gegen die ich dich gedrückt habe. Oder: die 10 Momente, in denen ich Angst gehabt habe, es könnte dich jemand schwängern (alternativ: die 10 Momente, in denen ich Angst gehabt habe, du könntest ein Kind wollen von mir).

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