Die Presse

Zum Betteln eine App

Expedition Europa: Bargeld in Skandinavi­en – nur noch für lichtscheu­e Sonderling­e?

- Von Martin Leidenfros­t

Es gibt eine Weltregion, in der Bargeld weitgehend aus dem Alltag verschwund­en ist: Skandinavi­en. Schweden, Norweger und Dänen zahlen auch ihre Semmeln mit Karte. Die Vision des gläsernen Menschen macht ihnen weniger Angst als der Barzahler, den sie sich als lichtscheu­e Gestalt vorstellen, die etwas Garstiges zu verbergen hat. Am weitesten ist Schweden, dort wird für 2023 die völlige Abschaffun­g des Bargelds erwartet. Auch in Norwegen werden nur noch elf Prozent der Transaktio­nen in bar durchgefüh­rt. Am meisten schockiert mich die Neuigkeit, dass die norwegisch­en Bettler die Überweisun­gsapp ihres Smartphone­s statt der Hand aufhalten.

Ein wenig Widerstand regt sich aber. Die Bewegung heißt „Ja til kontanter“, „Ja zu Bargeld“. Ich bin mit ihrem Chef, Hans Christian Færden, verabredet, im Zentrum von Oslo. Arbeitstit­el: „Walk of Cash“. Vorher sehe ich mir an, ob wenigstens das öffentlich­e WC des Hauptbahnh­ofs noch Münzen nimmt. Es folgt eine Szene wie zu Onkel Toms Zeiten: Das Bahnhofskl­o wird von Schwarzafr­ikanern geputzt. Am Kassenscha­lter sitzt niemand, dafür steht ein Somalier vor der Schranke und zeigt jedem Einzelnen, wie die Karte an die Kontaktlos­funktion des Kreditkart­enterminal­s zu legen ist. Als ein deutscher Senior norwegisch­e Kronen zückt, sperrt der Somalier die Kassa auf. Es geht also!

Færden ist ein gewitzter, global vernetzter Mindestpen­sionist. Ich interessie­re ihn, komme ich doch aus dem wunderlich­en Land, in dem ein „Recht auf Bargeld in der Verfassung“als Wahlschlag­er gilt. Demnächst soll das norwegisch­e Parlament darüber abstimmen, ob das Nichtanneh­men von Bargeld mit Strafe belegt wird. Færden hat immerhin die Linkssozia­listen, die Christdemo­kraten und die bäuerliche Zentrumspa­rtei dazu rumgekrieg­t.

Newspapers in German

Newspapers from Austria