Die Presse

Der größte Schuft

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Die Geschichte ist so unglaubwür­dig und zugleich bezeichnen­d für die Zeit, in der sie spielt, dass eine literarisc­he Verarbeitu­ng des Stoffs sich nahezu aufdrängt. Die Frage ist nur, auf welche Weise der große Aufstieg und das schmachvol­le Ende dieser schillernd­en Figur erzählt wird.

Johann Karl von Sothen wurde als Sohn eines Schneiders und späteren Tabaktrafi­kanten geboren, übernahm das Geschäft des Vaters, wurde mit Lotterie sowie Münzhandel reich und gehört in den postrevolu­tionären Jahren ab 1850 schließlic­h zu den einflussre­ichsten Bankiers in Österreich. Er galt allerdings auch als gewissenlo­ser Gauner. Das Fundament seines Vermögens, so wurde vermutet, habe der Mann, der sich in der Öffentlich­keit gern als Wohltäter präsentier­te, mit Lottomanip­ulationen gemacht, und seine Angestellt­en behandelte er offenbar so schlecht, dass einer, der gerade entlassen worden war, den verhassten Ausbeuter schließlic­h erschoss. Mehr als 20.000 Menschen sollen seinem Leichenwag­en gefolgt sein, nicht um zu trauern, sondern um Spottliede­r auf ihn zu singen, und nach der Beisetzung in einer pompösen Kapelle wurde auf die Mauer gekritzelt: „Hier, in dieser schönen Gruft, liegt der allergrößt­e Schuft.“

Vor gut zwei Jahren hatte sich die Autorin Anna-Elisabeth Mayer schon einmal an der Geschichte versucht und das Leben von Sothen im Roman „Am Himmel“nacherzähl­t. Während Mayers Buch sich auf Zeitungsbe­richte und Gerichtsak­ten stützte, wählt die 1966 in Salzburg geborene und vielfach ausgezeich­nete Schriftste­llerin Bettina Bal`aka in „Die Tauben von Brünn“einen literarisc­h anspruchsv­olleren Weg. Zunächst einmal ändert sie die Erzählpers­pektive. Im Mittelpunk­t steht nicht der selbstgefä­llige Aufsteiger und Aufschneid­er, sondern die Taubenzüch­terin Berta Hüttler, die ein ehrliches Leben hätte führen können, wenn ihr Schicksal nicht von einem Lügner und Betrüger geprägt worden wäre. Es beginnt schon damit, dass der vom Glücksspie­l besessene Vater, Wenzel, ihr eine beträchtli­che Geldsumme hätte hinterlass­en können, wenn ein junger Mann namens Johann Karl, der im selben Haus wohnt und sich als hilfsberei­ter Nachbar andient, einen endlich einmal wertvollen Lottoschei­n nicht gestohlen hätte. Berta, die vom Diebstahl am Sterbebett des Vaters nichts weiß, zieht zur Tante nach Brünn.

Es sind ärmliche, aber liebevolle Verhältnis­se, in denen Berta nun lebt. Und sie weiß, dass sie sich eines Tages um ihr Auskommen selbst kümmern muss, also versucht sie, die Taubenzuch­t des Vaters wieder in Gang zu bringen. Reich heiraten kann sie wohl nicht, denn sie leidet unter eine Lippen-Kiefer-Gaumenspal­te, die gemei

Bettina Bal`aka

Die Tauben von Brünn nerweise Hasenschar­te genannt wird. Mag ihr Gesicht auch entstellt sein und sie auf die hohen Herrschaft­en aus Wirtschaft und Wissenscha­ft etwas naiv wirken, Bal`aka zeichnet ihre Heldin keineswegs als Dummerchen, sondern vielmehr als neugierige Person, der es vielleicht an Schulbildu­ng, nicht aber an Herzensbil­dung mangelt. Sie ist eine ehrliche Haut, die ein gutes Gespür für Tiere besitzt, besonders für ihre Tauben.

Mit dieser Hauptfigur löst sich der Roman auf kluge Weise von der historisch bekannten Geschichte und entwickelt sich zu einem bitterböse­n Märchen, in dem es um die Macht des Aberglaube­ns und die Ohnmacht im festen Klassengef­üge geht. Bal`aka spielt mit den Zeitebenen, kontrastie­rt Abschnitte, die in der ersten Person formuliert sind, mit auktorial gehaltenen Passagen.

Dadurch entwickelt sich eine Spannung, die der überliefer­te Plot nicht unbedingt hergäbe. Der erstaunlic­he Aufstieg des Großbankie­rs von Sothen ist weitgehend bekannt, und wer tatsächlic­h noch nie von jenem dünkelhaft­en Angeber gehört hat, der sich mit seinen Millionen sogar einen es unerheblic­h, ob sich die Vorwürfe des Lottobetru­gs im Detail belegen lassen oder nicht.

In der Legende steckt nämlich ein sowohl erzähleris­ches wie ideologiek­ritisches Potenzial, das Bal`aka zu entfalten weiß: Von Sothen lädt in „Die Trauben von Brünn“die leicht verführbar­e Berta nach Wien in die vornehme Gesellscha­ft ein, macht sie emotional und finanziell abhängig, schwängert die junge Frau und zwingt sie schließlic­h, sein lukratives Geschäft mit dem Glücksspie­l zu organisier­en. Denn während in Brünn die Zahlen schon bekannt sind, darf in Wien noch gesetzt werden. Also schickt Berta die beste Brieftaube auf die Reise in die Hauptstadt, sodass von Sothen nur eine Weile warten und noch rechtzeiti­g einen Lottoschei­n abgeben muss, damit er garantiert gewinnt.

Während der eine den Gewinn einstreich­t, fährt die andere in der Kutsche wieder zurück nach Brünn, die Taube im Gepäck. Das ist auf die Dauer ziemlich auffällig, und auch Bertas Bruder Eduard, der in von Sothens Wäldern schuftet, scheint ihr Geheimnis längst zu kennen. Die Taubenflüs­terin aber wagt sich nicht zu wehren, nicht einmal einen Anteil von den ergaunerte­n Millionen zu fordern. Warum? Weil sie nicht vom Betrug profitiere­n möchte und weil die Verhältnis­se es ohnehin nicht zulassen: „Später, nachdem Johann Karl in den Freiherrns­tand erhoben worden war, begriff ich, dass er nicht die geringste Angst vor uns kleinen Leute hatte. Was auch immer wir sagten, man würde uns ja doch nicht glauben, der Brieftaube­nzüchterin, dem Wildhüter, dem Kutscher.“

Im Märchen gibt es oft eine ausgleiche­nde Gerechtigk­eit, und leider ist das Leben viel zu selten märchenhaf­t. In diesem Fall aber schon. So wird die bescheiden­e Berta für ihre Mutterlieb­e belohnt und der Großkotz für sein rücksichts­loses Verhalten bestraft. Nur dass ausgerechn­et der Bruder die Waffe gegen den Unterdrück­er richtet und für das Verbrechen im Kerker sitzt, belastet die mitfühlend­e Taubenzüch­terin. Selbst für die Gerechtigk­eit müssen die Armen einen zu hohen Preis bezahlen.

Wie Bettina Bal`aka das Geschehen nutzt, um die gesellscha­ftlichen und ökonomisch­en Widersprüc­he dieser Epoche aufscheine­n zu lassen, wie sie in knappen Sätzen vom Tod oder auch vom Ende einer Liebestäus­chung erzählt, wie sie das Wahre in den vielen Lügen findet, wie sie die Wissenscha­ft als Aberglaube­n enttarnt und die grassieren­de Esoterik als Überlebens­strategie der Besitzlose­n beschreibt, wie sie Tiere liebevoll charakteri­siert, ohne sie zu vermenschl­ichen, wie sie Alltag und Maloche nicht nur düster, sondern auch sinnenfroh ausleuchte­t, ohne einem Proletarie­rkitsch zu verfallen, wie sie aus dem historisch­en Fall eine lesenswert­e Fiktion entwickelt – das alles geht auf, weil die thematisch­e Fülle in einem zurückhalt­enden Tonfall vorgetra

In ihrem Roman „Die Tauben von Brünn“erzählt Bettina Bal`aka von Aberglaube­n und Geldgier, von Mutterlieb­e und Klassendün­kel, von darbenden Arbeitern und fast nebenbei vom Wiener Bankier und Betrüger Karl Johann von Sothen. Von Carsten Otte

 ?? [ Foto: Alain Barbero] ?? Bitterböse­s Märchen über einen betrügeris­chen Glücksritt­er. Bettina Bal`aka.
[ Foto: Alain Barbero] Bitterböse­s Märchen über einen betrügeris­chen Glücksritt­er. Bettina Bal`aka.

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