Das Ende vom Ende
Nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Systeme des Ostblocks und dem Ende des Kalten Krieges verkündete der US-amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama das „Ende der Geschichte“– in einem Buch mit diesem Titel. Westlicher, demokratischer Liberalismus und freie Marktwirtschaft seien gewissermaßen die Sieger der Weltgeschichte, zu denen es keine eigentliche Alternative gebe.
Nach Bankenkrise, Brexit-Chaos und dem Aufstieg rechtspopulistischer und rechter Parteien in Europa und anderswo fragt der in Wien lehrende Historiker Philipp Ther in einer Sammlung von Essays, warum die letzten drei Jahrzehnte anders verlaufen sind als von vielen erwartet. In seinen Reflexionen, die er auch als „persönliche Spurensuche“bezeichnet, bezieht er sich vor allem auf den Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler Karl Polanyi. Dieser nahm in seinem Hauptwerk, „The Great Transformation“(1944), eine Pendelbewegung zwischen den Prinzipien der freien Marktwirtschaft und dem „sozialen Schutzbedürfnis“der Gesellschaft an. Ther fragt nun, warum seit den 1980er-Jahren der „eingebettete Kapitalismus“des Westens nach 1945 durch den Neoliberalismus, durch eine Bewegung in das politisch rechte Lager sowie Tendenzen Richtung illiberaler beziehungsweise „gelenkter“Demokratie abgelöst wurde.
Thers eigene Position kann am ehesten als linksliberal – mit starken Vorbehalten gegenüber dem Neoliberalismus – bezeichnet werden. Er unterscheidet sich wohltuend von einschlägigen Publikationen dadurch, dass er auf simples Moralisieren („Wenn es das Böse gibt, dann wohnt es bei Trump“), auf fragwürdiges Psychologisieren („Trump ist ein Narziss, meine Ferndiagnosen stimmen immer“) und auf das Mitteilen eigener Befindlichkeiten verzichtet („Ich erinnere mich noch genau: Als Trump Präsident wurde, bekam ich eine leichte Depression“). Ther verurteilt nicht, er versucht zu verstehen. Mit dem differenzierenden Instrumentarium des Historikers sucht er nach den Ursachen, warum Geschichte ein anderes „Ende“beziehungsweise eine andere Entwicklung genommen hat als von Fukuyama vorausgesagt, warum Politiker wie Berlusconi, Trump und Orban´ an die Macht kamen.
Dabei ist Ther auch bereit, „vor der eigenen politischen Haustür“zu kehren. Sein Hauptvorwurf an die Linke lautet, dass diese den Kontakt zu großen Teilen der Bevölkerung verloren habe. Sie habe verlernt, „die Sprache ihrer früheren Basis zu sprechen. Sie rekrutierte ihren politischen Nachwuchs immer mehr an den Universitäten und damit in einem nach wie vor bürgerlich geprägten Umfeld.“Pointiert formuliert: Linke können heute über Diversität, die Identität von Randgruppen und „Queer history“in Uni-Seminaren Referate halten, haben aber keine Ahnung mehr vom Arbeitsalltag bei Amazon oder den Problemen der Unterschicht – Hillary Clintons „deplorables“. In dieses Vakuum seien die rechtspopulistischen oder rechten Parteien vorgestoßen.
In den vier zentralen Kapiteln des Buches befasst sich Philipp Ther mit den USA seit 1989, mit den wirtschaftspolitischen Fehlern seit der Wiedervereinigung in der Bundesrepublik (die Stichwörter sind: Wechselkurs, Liberalisierung des Außenhandels, Treuhand), mit dem Abstieg Italiens unter Berlusconi (den er als „Tragödie“bezeichnet), und mit der Entfremdung zwischen dem Westen einerseits und Russland und der Türkei andererseits. Insgesamt diagnostiziert er in den untersuchten Ländern, etwa im United Kingdom, in Polen oder den
Vereinigten Staaten, eine „populistische Revolte“. Der Rechtspopulismus neige zur Selbstradikalisierung, was sich in der Entwicklung von Berlusconi zu Matteo Salvini oder in der republikanischen Partei in den USA ablesen lasse. Das Endergebnis sei ein Rechtsnationalismus mit eindeutigen Tendenzen Richtung illiberaler Demokratie. Eben Polanyis Pendel nach rechts.
Ther kennt die Länder, die er untersucht – er hat in den Vereinigten Staaten, in Italien und den „neuen Bundesländern“geforscht und ist zurzeit Vorstand des Instituts für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien. Sein Buch wartet mit vielen interessanten Details auf: In den USA gibt es tatsächlich ein Krankheitsbild mit dem Namen „Trump Anxiety Disorder“; die Coupon-Privatisierung in Russland nach 1991 wird von Vladimir Yakunin („The Treacherous Path. An Insider’s Account of Modern Russia“, 2018) massiv kritisiert; Ther erklärt, warum die US-Infrastruktur, für jeden Touristen sichtbar, in einem derart deplorablen Zustand ist; nebenbei erzählt er die Geschichte der Firma Olivetti. Das und vieles andere ist interessant und spannend zu lesen.
Nicht alles an Thers Essaysammlung ist gelungen. Ich bezweifle, dass man den Kommunismus als „Kind der europäischen Aufklärung“bezeichnen kann. Das linksliberale Amerika ist nicht nur „imaginiert“. Die Bedrohung durch Migranten in Europa ist nur teilweise „aufgebauscht“. Demografische Faktoren, etwa die starke Überalterung in Italien oder der schrumpfende Anteil der Weißen in der US-Bevölkerung sowie mögliche Auswirkungen auf das Wahlverhalten, werden nicht thematisiert. Ich bin mir nicht sicher, ob erst im „Zeitalter des Neoliberalismus“die „Menschenverachtung“sowie das „Treten nach unten“„systemisch“geworden ist. Überhaupt wäre nach einer genaueren Definition von Neoliberalismus und seinen Varianten zu fragen. Die Rede von einer angeblichen „Essenz“dieses Neoliberalismus ist wenig überzeugend.
Philipp Ther hat ein fundiertes und sehr lesbares Buch geschrieben, das zum Nachdenken anregt und viele Gründe nennt, um pessimistisch zu sein – ganz im Gegensatz zu jener Zeit, als Fukuyama seinen Bestseller schrieb. Die Versuchung ist groß, in Zeiten wie diesen mit partieller Medienabstinenz und einem Rückzug ins Privatleben ein „postmodernes Biedermeier“zu praktizieren. Das wäre aber, wie Ther zutreffend anmerkt, keine sinnvolle Lösung.
Das andere Ende der Geschichte Essays zur Großen Transformation. 200 S., brosch., € 16,50 (Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Berlin)
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