Der zornige Vogelliebhaber
In der Essaysammlung des 1959 geborenen Erfolgs-Romanciers Jonathan Franzen – alle in diversen Printmedien oder als Vorworte in Büchern erstveröffentlicht – bildet sich das Interessensspektrum des Autors ab: Literatur, Skepsis gegenüber blinder Technologiehörigkeit und daraus folgender Zeitphänomene sowie seine große Leidenschaft der Vogelbeobachtung, die Natur- und Klimaschutz einschließt. Manches bringt ihn dabei so sehr in Rage, dass der protestantisch Erzogene sich zu späterer Selbstkritik veranlasst sieht, wenn er nicht ganz treffende Akzente gesetzt und das Bild eines „zornigen, Vögel liebenden Sonderlings“abgegeben hat. „Diese Figur mag ich sein, aber es ist nicht mein ganzes Ich, und ein besserer Essay hätte das gespiegelt.“
Obwohl er zu Vögeln viel Informatives liefert, erfolgt Franzens Zugriff auf seine Themen nie mit dem sterilen Instrumentarium des trockenen Theoretikers, sondern über Gespür und Handwerk des Erzählers. Und als solcher vermag er mich tatsächlich für Vögel und die Vogelbeobachtung zu interessieren, auch wenn ich nie auf die Idee kommen würde, Kaiserpinguine nicht nur in Fernsehdokumentationen zu sehen, sondern wie Franzen – mit dem schlechten Gewissen des um das Klima Besorgten – dafür eigens in die Antarktis zu reisen oder auf eine Antilleninsel, um dort Endemiten zu beobachten, Vögel, die nirgendwo sonst auf der Erde vorkommen! Und dies auch noch als „Lister“, der darüber zwanghaft Buch
Das Ende vom Ende der Welt
Essays. Aus dem amerikanischen Englisch von Bettina Abarbanell und Wieland führt beziehungsweise Listen abarbeitet! Auch der Romanautor mit dem Spezialgebiet Familie kommt nicht zu kurz: Sein Onkel Walt vermacht ihm überraschend eine stattliche Summe Geldes, das in die Antarktis-Reise investiert wird. Der Witwer Walt verknallte sich in Franzens Mutter, als die Witwe bereits dabei ist, den Kampf gegen den Krebs zu verlieren. Die beiden lebenslustigen Menschen haben ihre Partner unter den depressiven Franzens gefunden – Jonathan selbst bezeichnet sich als depressiven Pessimisten. „Ich konnte mir gut vorstellen, dass meine Mutter darüber nachgedacht hatte, wie viel Spaß sie hätte haben können, hätte sie einen ganz normalen Mann wie Walt geheiratet und nicht meinen Vater.“Wobei der liberale Demokrat Walt mit seiner depressiven Franzen auch noch eine sich so wie eine kluge Buchbesprechung über ein Werk zu den Auswirkungen heutiger Technologien auf die Menschen oder das empathische Vorwort zu einem Fotobuch über Menschen in einer Bar in Philadelphia, in dem der schöne, auch auf Franzens Romanwerk anwendbare Satz von der „grenzenlosen Besonderheit des Lebens ganz normaler Menschen“steht.
Vieles verzahnt sich mit Franzens Obsession: Während er in Ghana Karminspinte und „eine männliche Fahnennachtschwalbe“beobachtet und daheim Clinton – so wie er es per Brief bereits getan hat – zur Präsidentin gewählt wähnt, siegt Trump! Gar nicht weit ist es von den Vögeln klarerweise zum Klimawandel, der viel „mit dem ökonomischen System gemein“hat, „das ihn beschleunigt. Wie der Kapitalismus ist er transnational, auf unvorhersehbare Weise zerstörerisch, selbstverstärkend und unentrinnbar. Er trotzt dem Widerstand des Einzelnen, bringt große Gewinner und große Verlierer hervor und tendiert zur globalen Monokultur.“
Jonathan Franzen erweist sich in diesen hellsichtigen Texten in vielerlei Hinsicht sympathisch skrupulös, nicht nur, wenn er unter dem Titel „Das Sympathie-Problem“der sehr privilegierten konservativen Autorin Edith Wharton gerecht zu werden versucht. Gleich im ersten Text, in dem er sich der literarischen Form des Essays zuwendet, heißt es: „Wir verbringen unsere Tage damit, auf dem Bildschirm Zeug zu lesen, das wir in einem Buch nie lesen würden.“Umso schmerzlicher die Vorstellung, dass auch diese ausgezeichneten Essays von Jonathan Franzen vermutlich niemals von denen gelesen werden die ihrer am dringendsten be