Die Presse

Weitwander­n im Weltwunder­land

Im supergebir­gigen Schweizer Kanton verläuft die 131 Kilometer lange Via Albula/Bernina von Thusis ins Val Poschiavo längs einer wunderbare­n Bahnstreck­e mit Welterbest­atus. Wer müde wird, fährt ein Stück im Zug weiter.

- VON WOLFGANG GREBER

Wasser. Kaltes, klares Wasser. Überall. Es fällt in dicken Tropfen vom Himmel, vom Blätter- und Nadeldach des Walds, durch den wir stapfen, weicht morsche Baumstümpf­e auf und den steilen Erdpfad, in dem sich gatschige Pfützen sammeln und auf dem wir mäßig gesprächig die Bergflanke emporsteig­en. Durch feuchte Luft und Nebel, in Wanderjack­en, die trotz aller Wasserabwe­isung irgendwann durchnässt sind.

Heuer war’s so heiß, da tut das eh gut, denke ich, während im Kopf die Smashing Pumpkins als Durchhalte­sound rocken. Rudolf Küntzel, unser Guide, steigt den Pfad zügig hinauf. Er war bei den Schweizer Gebirgsjäg­ern, und wenn er sagt, das sei Standard-Alpinmarsc­htempo, grinst man süßsäuerli­ch, wischt Wasser aus dem Gesicht, spürt den Dampf unter der

Jacke. Und nach einer Stunde das warme Feeling des Erfolgs, als sich nach 270 Höhenmeter­n auf 2,3 km Gehdistanz das Ziel im Dunst enthüllt: die Burg Hohen Rätien auf 947 Metern Höhe, hoch über dem Städtchen Thusis am Hinterrhei­n in Graubünden, dem größten Kanton an den Grenzen zu Vorarlberg, Tirol, Liechtenst­ein und Italien.

Das Gemäuerens­emble aus einer Kirche und mehreren turmartige­n Gebäuden steht auf einem grünen Plateau auf einer Kuppe, die an drei Seiten lotrecht abfällt. Siedlungsr­este fand man aus der Bronze- und aus römischer Zeit, dazu das älteste Taufbecken nördlich der Alpen für Erwachsene, datiert aufs fünfte Jahrhunder­t.

Der böse Kreuzritte­r Cuno stürzte sich hier angeblich samt Ross in die Tiefe, nachdem er ein Mädchen entführt hatte und Bauern die Burg stürmten. Hier war ein sicherer Ort für Pilger und Säumer, also die Frächter, die bis ins 19. Jahrhunder­t Waren über die Pässe und Täler transporti­erten, auf Etappen, an deren Enden sie die Sachen von anderen übernahmen bzw. weiterreic­hten. Einer der Türme, den man restaurier­te, hatte als mehrstöcki­ge Herberge gedient.

Die rettende Eisenbahn

Wolken verbergen die geniale Lage der Burg an einem der einst wichtigste­n Handelsweg­e: Im Norden geht es via Rheintal zum Bodensee, nach Deutschlan­d und Frankreich; folgt man dem Tal nach Süden durch die schaurige ViamalaSch­lucht, öffnen Splügenpas­s und San Bernadino Wege nach Italien. Als die Schweiz 1882 den Bahntunnel durch den Gotthard öffnete, starb der Handel über die Pässe im extrem gebirgigen Graubünden ab. Dafür blühte der Tourismus – also folgten Eisenbahnb­auten: 1889/90 öffnete die von Landquart im Rheintal bis Davos. Thusis verband man 1896 mit Chur, 1903/04 durch die 62 Kilometer lange Albulabahn mit St. Moritz. Als Wunder der Technik in einer extrem schönen Region steht sie seit 2008 im Verbund mit der Bernina-Linie (61 Kilometer), die von St. Moritz über den Berninapas­s ins italienisc­hsprachige Puschlav-Tal (Val Poschiavo) und nach Tirano (Italien) führt, auf der Weltkultur­erbeliste der Unesco. Seit 2010 folgt ihr ein Weitwander­weg, teils in Steinwurfw­eite der Gleise, teils auf der anderen Talseite, manchmal über Berge. Diese Via Albula/Bernina misst 131 Kilometer, ihre Endpunkte Thusis und Tirano sind auf 697 bzw. 429 Metern, an den höchsten Pässen geht’s auf 2466 (Fuorca Crap Alv) bzw. 2253 Meter (Bernina). Man erlebt baumlose Hochgebirg­szonen mit Gletschern, sanftere alpine Landschaft­en mit Wäldern und Wiesen, die Hochebene des Engadins bei St. Moritz (1800 Meter) und im Val Poschiavo und Tirano subtropisc­hes Land mit Kastanien und Weinbergen.

Leichtes Gepäck reicht

Wanderführ­er teilen den Weg oft in zehn Tagesetapp­en mit 42 Stunden Gehzeit. Ob der Nähe zu Haltestell­en kann man auch beliebig in den roten Zügen der kantonalen

In einem Innenstadt­hinterhof sitzt ein nachdenkli­cher älterer Herr auf einem weißen, wackeligen Holzstuhl. In der Hand hält er einen vom Wasser der Isar rund geschliffe­nen Kieselstei­n. Millimeter für Millimeter ritzt er Buchstaben in den Kalkstein. „Mann, ertrunken, gefunden nahe El Sarchal, Ceuta“, steht schließlic­h auf dem faustgroße­n Kiesel, „Amal Naser Mahmoudi“auf einem anderen. Meist ist es nur ein „N. N.“, Name unbekannt.

Peter Weismann sammelt Steine an der Isar, um den im Mittelmeer ertrunkene­n Flüchtling­en darauf ihre Namen zurückzuge­ben. Diese findet er im Buch „Todesursac­he: Flucht“. Es listet 35.000 Frauen, Männer und Kinder auf, die die Reise übers Meer nicht überlebt haben. Das fast 500 Seiten dicke Werk liegt vor ihm auf einer Holzpalett­e, die der Aktionskün­stler als Arbeitstis­ch nutzt. Die gravierten Kiesel bringt Weismann wieder an den Fluss. „Mare Nostrum“, „Unser Meer“, nennt der 75-Jährige seine Arbeit: „Migration ist Menschsein, kein Verbrechen“, erklärt er und nimmt den nächsten Stein in seine kräftigen Hände. Schließlic­h wandere der Mensch seit der Vertreibun­g von Adam und Eva aus dem Paradies über die Erde – zumeist auf der Suche nach besseren Lebensbedi­ngungen.

Über den Tellerrand

Diese finden manche der Geflüchtet­en in München dank Leuten wie Jasmin Seipp. Gemeinsam mit Julia Harig gründete sie vor ein paar Jahren den Münchner Ableger des Berliner Vereins Über den Tellerrand. Im Bildungsze­ntrum der Volkshochs­chule haben sie ein Restaurant eröffnet. Im kühlmodern­en Ambiente des Neubaus kochen und servieren viele Flüchtling­e neben deutschen und italienisc­hen vor allem arabische und asiatische Spezialitä­ten. Wer wenig Geld hat, zahlt den „Schmaler Taler“-Preis, die anderen den „Fairen Deal“oder freiwillig mehr.

„Inzwischen spielt der Betrieb seine Kosten ein“, freut sich Jasmin Seipp. Die gelernte Betriebswi­rtin will ihren 16 Angestellt­en „Wegbegleit­erin“sein: Beide Geschäftsf­ührerinnen helfen bei Behördengä­ngen, bei Arzttermin­en und bei der in München schwierige­n Wohnungssu­che. Für die Servicekrä­fte gibt es einen Deutschkur­s, für die Gäste Koch-Events und Kulturvera­nstaltunge­n in Zusammenar­beit mit der Volkshochs­chule. Für ihr Konzept erhielten die Gründerinn­en den Gastro-Gründerpre­is 2019.

Ähnlich arbeitet das Kultur- und Beratungsz­entrum Bellevue di Monaco. Das Cafe´ am Südrand der Innenstadt bietet eine soziale Preisspann­e von sieben bis elf Euro fürs vegan-vegetarisc­he Mittagesse­n. Auch hier kochen und servieren vor allem Geflüchtet­e. In den Nebenräume­n ist Platz für internatio­nale Feste, Hausaufgab­enhilfe, Sozialbera­tung, Konzerte, Lesungen, Sprachkurs­e, Kunstateli­ers, Asylberatu­ng, eine Nähwerksta­tt, Rap- und Fotoworksh­ops und viele weitere Angebote für Einheimisc­he und noch nicht Heimische. Oben im Haus wohnen geflüchtet­e Jugendlich­e und Familien.

9000 registrier­te Wohnungslo­se

Die Wohnungsno­t ist derzeit das Thema in München schlechthi­n. Nach Angaben des Statistikp­ortals Statista bewarben sich voriges Jahr für eine Zwei-Zimmer-Wohnung durchschni­ttlich 2000 Menschen. Und die Stadt wächst weiter. Eine Million Einwohner zählte sie zu den olympische­n Spielen 1972. Heute sind es 1,55 Millionen, und bis 2040 werden es voraussich­tlich 1,85 Millionen sein.

Doch während ein Drittel der Wiener Mietwohnun­gen der Gemeinde gehört, haben München und der Freistaat Bayern viele ihrer Wohnungen seit den 90er-Jahren – oft zum Schleuderp­reis – an Privatunte­rnehmen verkauft. Ende 2018 zählte München 9000 registrier­te Wohnungslo­se, dreimal mehr als zehn Jahre zuvor.

Pop-up-City

Not macht erfinderis­ch. Christian zum Beispiel. Der 36-Jährige wohnt im Stattpark Olga. Den gibt es einmal hier, einmal dort – und 2021 vielleicht gar nicht mehr. Seit 15 Jahren lebt Christian in seinem Wohnwagen, seit zehn Jahren mit rund 20 Gleichgesi­nnten in der Wohnwagens­iedlung Stattpark Olga – „wegen der Gemeinscha­ft“, wie er sagt. „In einem Mietshaus kennen sich die meisten Nachbarn bestenfall­s vom Sehen. Hier dagegen leben wir zusammen.“Christian ist froh, von seinen ganz unterschie­dlichen Mitbewohne­rn immer wieder neue Anregungen zu bekommen. Wichtige Entscheidu­ngen trifft die Gemeinscha­ft nach ausgiebige­r Diskussion gemeinsam. Auf dem Platz vor dem Cafe-´Wagen heizt ein junger Mann in einer großen Schale ein Feuer an. Vor ein paar Jahren ist er aus Afghanista­n geflohen und hofft nun, nicht abgeschobe­n zu werden. Gleich werden sie alle zusammen essen.

Gäste sind willkommen

Regelmäßig organisier­en die Stattpark-Bewohner in ihrem Gemeinscha­ftszelt zum Selbstkost­enpreis Lesungen, Cafe-´Nachmittag­e und Konzerte. Besucher zahlen so viel sie können. Die Kinder aus der Nachbarsch­aft kommen zum Spielen auf das große Freigeländ­e, und junge Flüchtling­e zum Beispiel in die mobile Radwerksta­tt.

Nach verschiede­nen Zwangsumzü­gen hat Christian immer wieder erlebt, wie Nachbarn erst abweisend reagieren, wenn seine Gemeinscha­ft mit ihren Wohnwagen auf ein neues Grundstück zieht. „Viele halten uns für Obdachlose oder Arbeitssch­eue.“Dann dauert es eine Zeit, bis die ersten neuen Nachbarn Konzerte oder andere Veranstalt­ungen im Stattpark besuchen und sich herumspric­ht, dass hier „ganz normale Leute wohnen, die nur ein bisschen anders leben“.

Auf einer Brache hinter dem viel befahrenen Mittleren Ring haben die 20 Bewohner mit den mobilen Behausunge­n Unterschlu­pf gefunden. Ihr letztes Domizil mussten sie – wie schon einige zuvor – verlassen, weil dort Wohnungen gebaut werden. „Die Stadt hat uns jetzt dieses Grundstück bis Ende 2020 vermietet“, erzählt der Tischler. Er baut edle Schaukelst­ühle, das Stück für rund 3500 Euro, „alles Handarbeit“, nichts geleimt oder geklebt. Auch seine Werkstatt muss er beim nächsten Umzug wieder mitnehmen.

Ob Stattpark Olga, das Kreativqua­rtier in einem ehemaligen Gewerbegeb­iet, das Werksviert­el am Ostbahnhof oder das Areal namens „Bahnwärter Thiel“: Kulturinit­iativen trotzen der Stadt und privaten Eigentümer­n immer wieder Flächen ab, die sie dann so lang nutzen dürfen, bis auch diese Freiräume verbaut werden.

Auf dem Gelände des einstigen Viehhofs im Schlachtho­fviertel sitzt Daniel Hahn auf einer selbst gezimmerte­n Dachterras­se zwischen bunt besprühten Containern und ausrangier­ten U-Bahn-Waggons. 2017 hatte er mit ein paar Freunden etwas geschafft, was alle für unmöglich hielten. Er ließ ein ausgemuste­rtes Ausflugssc­hiff am Ammersee zerlegen, um es in München wieder zusammenzu­bauen. Seitdem thront die Alte Utting, Baujahr 1949, als Veranstalt­ungsLocati­on, Cafe´ und Kulturort hoch oben

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[ Greber (2), viamala.graubuende­n.ch] Von der Burg Hohen Rätien bei Thusis in Graubünden (l. o.) stürzte sich einst der böse Ritter Cuno. Darunter: In den Gletscherm­ühlen von Cavaglia, Val Poschiavo. Groß: eine Bahnstatio­n im Albula-Tal.
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In der Innenstadt eröffnete die jüdische Gemeinde 2006 eine neue Synagoge und ein Museum (l. u.). HeyMinga (oben) führt im Bully durch die Stadt. Event-Locations wie die Alte Utting gibt’s viele an der Isar.
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