Weitwandern im Weltwunderland
Im supergebirgigen Schweizer Kanton verläuft die 131 Kilometer lange Via Albula/Bernina von Thusis ins Val Poschiavo längs einer wunderbaren Bahnstrecke mit Welterbestatus. Wer müde wird, fährt ein Stück im Zug weiter.
Wasser. Kaltes, klares Wasser. Überall. Es fällt in dicken Tropfen vom Himmel, vom Blätter- und Nadeldach des Walds, durch den wir stapfen, weicht morsche Baumstümpfe auf und den steilen Erdpfad, in dem sich gatschige Pfützen sammeln und auf dem wir mäßig gesprächig die Bergflanke emporsteigen. Durch feuchte Luft und Nebel, in Wanderjacken, die trotz aller Wasserabweisung irgendwann durchnässt sind.
Heuer war’s so heiß, da tut das eh gut, denke ich, während im Kopf die Smashing Pumpkins als Durchhaltesound rocken. Rudolf Küntzel, unser Guide, steigt den Pfad zügig hinauf. Er war bei den Schweizer Gebirgsjägern, und wenn er sagt, das sei Standard-Alpinmarschtempo, grinst man süßsäuerlich, wischt Wasser aus dem Gesicht, spürt den Dampf unter der
Jacke. Und nach einer Stunde das warme Feeling des Erfolgs, als sich nach 270 Höhenmetern auf 2,3 km Gehdistanz das Ziel im Dunst enthüllt: die Burg Hohen Rätien auf 947 Metern Höhe, hoch über dem Städtchen Thusis am Hinterrhein in Graubünden, dem größten Kanton an den Grenzen zu Vorarlberg, Tirol, Liechtenstein und Italien.
Das Gemäuerensemble aus einer Kirche und mehreren turmartigen Gebäuden steht auf einem grünen Plateau auf einer Kuppe, die an drei Seiten lotrecht abfällt. Siedlungsreste fand man aus der Bronze- und aus römischer Zeit, dazu das älteste Taufbecken nördlich der Alpen für Erwachsene, datiert aufs fünfte Jahrhundert.
Der böse Kreuzritter Cuno stürzte sich hier angeblich samt Ross in die Tiefe, nachdem er ein Mädchen entführt hatte und Bauern die Burg stürmten. Hier war ein sicherer Ort für Pilger und Säumer, also die Frächter, die bis ins 19. Jahrhundert Waren über die Pässe und Täler transportierten, auf Etappen, an deren Enden sie die Sachen von anderen übernahmen bzw. weiterreichten. Einer der Türme, den man restaurierte, hatte als mehrstöckige Herberge gedient.
Die rettende Eisenbahn
Wolken verbergen die geniale Lage der Burg an einem der einst wichtigsten Handelswege: Im Norden geht es via Rheintal zum Bodensee, nach Deutschland und Frankreich; folgt man dem Tal nach Süden durch die schaurige ViamalaSchlucht, öffnen Splügenpass und San Bernadino Wege nach Italien. Als die Schweiz 1882 den Bahntunnel durch den Gotthard öffnete, starb der Handel über die Pässe im extrem gebirgigen Graubünden ab. Dafür blühte der Tourismus – also folgten Eisenbahnbauten: 1889/90 öffnete die von Landquart im Rheintal bis Davos. Thusis verband man 1896 mit Chur, 1903/04 durch die 62 Kilometer lange Albulabahn mit St. Moritz. Als Wunder der Technik in einer extrem schönen Region steht sie seit 2008 im Verbund mit der Bernina-Linie (61 Kilometer), die von St. Moritz über den Berninapass ins italienischsprachige Puschlav-Tal (Val Poschiavo) und nach Tirano (Italien) führt, auf der Weltkulturerbeliste der Unesco. Seit 2010 folgt ihr ein Weitwanderweg, teils in Steinwurfweite der Gleise, teils auf der anderen Talseite, manchmal über Berge. Diese Via Albula/Bernina misst 131 Kilometer, ihre Endpunkte Thusis und Tirano sind auf 697 bzw. 429 Metern, an den höchsten Pässen geht’s auf 2466 (Fuorca Crap Alv) bzw. 2253 Meter (Bernina). Man erlebt baumlose Hochgebirgszonen mit Gletschern, sanftere alpine Landschaften mit Wäldern und Wiesen, die Hochebene des Engadins bei St. Moritz (1800 Meter) und im Val Poschiavo und Tirano subtropisches Land mit Kastanien und Weinbergen.
Leichtes Gepäck reicht
Wanderführer teilen den Weg oft in zehn Tagesetappen mit 42 Stunden Gehzeit. Ob der Nähe zu Haltestellen kann man auch beliebig in den roten Zügen der kantonalen
In einem Innenstadthinterhof sitzt ein nachdenklicher älterer Herr auf einem weißen, wackeligen Holzstuhl. In der Hand hält er einen vom Wasser der Isar rund geschliffenen Kieselstein. Millimeter für Millimeter ritzt er Buchstaben in den Kalkstein. „Mann, ertrunken, gefunden nahe El Sarchal, Ceuta“, steht schließlich auf dem faustgroßen Kiesel, „Amal Naser Mahmoudi“auf einem anderen. Meist ist es nur ein „N. N.“, Name unbekannt.
Peter Weismann sammelt Steine an der Isar, um den im Mittelmeer ertrunkenen Flüchtlingen darauf ihre Namen zurückzugeben. Diese findet er im Buch „Todesursache: Flucht“. Es listet 35.000 Frauen, Männer und Kinder auf, die die Reise übers Meer nicht überlebt haben. Das fast 500 Seiten dicke Werk liegt vor ihm auf einer Holzpalette, die der Aktionskünstler als Arbeitstisch nutzt. Die gravierten Kiesel bringt Weismann wieder an den Fluss. „Mare Nostrum“, „Unser Meer“, nennt der 75-Jährige seine Arbeit: „Migration ist Menschsein, kein Verbrechen“, erklärt er und nimmt den nächsten Stein in seine kräftigen Hände. Schließlich wandere der Mensch seit der Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies über die Erde – zumeist auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen.
Über den Tellerrand
Diese finden manche der Geflüchteten in München dank Leuten wie Jasmin Seipp. Gemeinsam mit Julia Harig gründete sie vor ein paar Jahren den Münchner Ableger des Berliner Vereins Über den Tellerrand. Im Bildungszentrum der Volkshochschule haben sie ein Restaurant eröffnet. Im kühlmodernen Ambiente des Neubaus kochen und servieren viele Flüchtlinge neben deutschen und italienischen vor allem arabische und asiatische Spezialitäten. Wer wenig Geld hat, zahlt den „Schmaler Taler“-Preis, die anderen den „Fairen Deal“oder freiwillig mehr.
„Inzwischen spielt der Betrieb seine Kosten ein“, freut sich Jasmin Seipp. Die gelernte Betriebswirtin will ihren 16 Angestellten „Wegbegleiterin“sein: Beide Geschäftsführerinnen helfen bei Behördengängen, bei Arztterminen und bei der in München schwierigen Wohnungssuche. Für die Servicekräfte gibt es einen Deutschkurs, für die Gäste Koch-Events und Kulturveranstaltungen in Zusammenarbeit mit der Volkshochschule. Für ihr Konzept erhielten die Gründerinnen den Gastro-Gründerpreis 2019.
Ähnlich arbeitet das Kultur- und Beratungszentrum Bellevue di Monaco. Das Cafe´ am Südrand der Innenstadt bietet eine soziale Preisspanne von sieben bis elf Euro fürs vegan-vegetarische Mittagessen. Auch hier kochen und servieren vor allem Geflüchtete. In den Nebenräumen ist Platz für internationale Feste, Hausaufgabenhilfe, Sozialberatung, Konzerte, Lesungen, Sprachkurse, Kunstateliers, Asylberatung, eine Nähwerkstatt, Rap- und Fotoworkshops und viele weitere Angebote für Einheimische und noch nicht Heimische. Oben im Haus wohnen geflüchtete Jugendliche und Familien.
9000 registrierte Wohnungslose
Die Wohnungsnot ist derzeit das Thema in München schlechthin. Nach Angaben des Statistikportals Statista bewarben sich voriges Jahr für eine Zwei-Zimmer-Wohnung durchschnittlich 2000 Menschen. Und die Stadt wächst weiter. Eine Million Einwohner zählte sie zu den olympischen Spielen 1972. Heute sind es 1,55 Millionen, und bis 2040 werden es voraussichtlich 1,85 Millionen sein.
Doch während ein Drittel der Wiener Mietwohnungen der Gemeinde gehört, haben München und der Freistaat Bayern viele ihrer Wohnungen seit den 90er-Jahren – oft zum Schleuderpreis – an Privatunternehmen verkauft. Ende 2018 zählte München 9000 registrierte Wohnungslose, dreimal mehr als zehn Jahre zuvor.
Pop-up-City
Not macht erfinderisch. Christian zum Beispiel. Der 36-Jährige wohnt im Stattpark Olga. Den gibt es einmal hier, einmal dort – und 2021 vielleicht gar nicht mehr. Seit 15 Jahren lebt Christian in seinem Wohnwagen, seit zehn Jahren mit rund 20 Gleichgesinnten in der Wohnwagensiedlung Stattpark Olga – „wegen der Gemeinschaft“, wie er sagt. „In einem Mietshaus kennen sich die meisten Nachbarn bestenfalls vom Sehen. Hier dagegen leben wir zusammen.“Christian ist froh, von seinen ganz unterschiedlichen Mitbewohnern immer wieder neue Anregungen zu bekommen. Wichtige Entscheidungen trifft die Gemeinschaft nach ausgiebiger Diskussion gemeinsam. Auf dem Platz vor dem Cafe-´Wagen heizt ein junger Mann in einer großen Schale ein Feuer an. Vor ein paar Jahren ist er aus Afghanistan geflohen und hofft nun, nicht abgeschoben zu werden. Gleich werden sie alle zusammen essen.
Gäste sind willkommen
Regelmäßig organisieren die Stattpark-Bewohner in ihrem Gemeinschaftszelt zum Selbstkostenpreis Lesungen, Cafe-´Nachmittage und Konzerte. Besucher zahlen so viel sie können. Die Kinder aus der Nachbarschaft kommen zum Spielen auf das große Freigelände, und junge Flüchtlinge zum Beispiel in die mobile Radwerkstatt.
Nach verschiedenen Zwangsumzügen hat Christian immer wieder erlebt, wie Nachbarn erst abweisend reagieren, wenn seine Gemeinschaft mit ihren Wohnwagen auf ein neues Grundstück zieht. „Viele halten uns für Obdachlose oder Arbeitsscheue.“Dann dauert es eine Zeit, bis die ersten neuen Nachbarn Konzerte oder andere Veranstaltungen im Stattpark besuchen und sich herumspricht, dass hier „ganz normale Leute wohnen, die nur ein bisschen anders leben“.
Auf einer Brache hinter dem viel befahrenen Mittleren Ring haben die 20 Bewohner mit den mobilen Behausungen Unterschlupf gefunden. Ihr letztes Domizil mussten sie – wie schon einige zuvor – verlassen, weil dort Wohnungen gebaut werden. „Die Stadt hat uns jetzt dieses Grundstück bis Ende 2020 vermietet“, erzählt der Tischler. Er baut edle Schaukelstühle, das Stück für rund 3500 Euro, „alles Handarbeit“, nichts geleimt oder geklebt. Auch seine Werkstatt muss er beim nächsten Umzug wieder mitnehmen.
Ob Stattpark Olga, das Kreativquartier in einem ehemaligen Gewerbegebiet, das Werksviertel am Ostbahnhof oder das Areal namens „Bahnwärter Thiel“: Kulturinitiativen trotzen der Stadt und privaten Eigentümern immer wieder Flächen ab, die sie dann so lang nutzen dürfen, bis auch diese Freiräume verbaut werden.
Auf dem Gelände des einstigen Viehhofs im Schlachthofviertel sitzt Daniel Hahn auf einer selbst gezimmerten Dachterrasse zwischen bunt besprühten Containern und ausrangierten U-Bahn-Waggons. 2017 hatte er mit ein paar Freunden etwas geschafft, was alle für unmöglich hielten. Er ließ ein ausgemustertes Ausflugsschiff am Ammersee zerlegen, um es in München wieder zusammenzubauen. Seitdem thront die Alte Utting, Baujahr 1949, als VeranstaltungsLocation, Cafe´ und Kulturort hoch oben