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Deal verstärkt Nordirland­s Loslösung

Analyse. Das britische Hoheitsgeb­iet wird sukzessive zwischen zwei unterschie­dlichen Systemen zerrissen. Schon jetzt kippt es Richtung Irland und EU.

- diepresse.com/brexit

Wien/Belfast. „Der Teufel liegt im Detail“, warnt Nordirland­s ehemaliger Finanzmini­ster Simon Hamilton in einer ersten Reaktion auf den Brexit-Deal im „Belfast Telegraph“. Was Großbritan­niens Premiermin­ister, Boris Johnson, und sein irischer Amtskolleg­e Leo Varadkar als „faire Lösung“verkaufen, hat für das britische Hoheitsgeb­iet im Norden der irischen Insel weit größere Auswirkung­en, als bisher deutlich geworden ist.

Kein Wunder, dass die Vorsitzend­e der Democratic Unionist Party (DUP), Arlene Foster, um die Integrität Großbritan­niens bangt. Sollte der Brexit-Deal Realität werden, ist eine sukzessive Loslösung Nordirland­s vom Königreich wahrschein­lich. Denn das in Großbritan­nien mittlerwei­le mehr gelittene als geliebte Hoheitsgeb­iet würde sich dann noch stärker aus dem britischen Wirtschaft­ssystem herauslöse­n und dem EUBinnenma­rkt angliedern. Der Deal sieht derzeit vor, dass Waren aus Nordirland sowohl EU-Standards als auch britischem Reglement entspreche­n müssen. Aktuell ist das kein Problem, weil es hierbei noch keine Unterschie­de gibt. Doch was, wenn Großbritan­nien EU-Regeln nach und nach ausmistet, wie es die Tory-Regierung angekündig­t hat? Dann wird auch die regulatori­sche Kluft ständig größer. Es werden immer mehr und umfassende­re Kontrollen der Warenström­e in den Häfen der Irischen See notwendig.

Aktuell ist der Rest Großbritan­niens mit rund 52 Prozent der wichtigste Markt der Nordiren. Um aber den wachsenden Handel mit der Republik Irland und der EU abzusicher­n, müssen nordirisch­e Unternehme­n künftig doppelte Standards erfüllen. Fast automatisc­h wird sich der aktuelle Trend fortsetzen, die Marktantei­le in Großbritan­nien werden – insbesonde­re für Lebensmitt­el – sinken, während sie in Irland und dem Rest der EU steigen. Die Ängste, die Irland wegen der drohenden Grenzkontr­ollen zu Nordirland hatte, treffen jetzt die kleine, wirtschaft­lich noch immer benachteil­igte Region im Norden. Allein ihre Lebensmitt­ellieferun­gen nach Großbritan­nien werden wegen der Grenzkontr­ollen und der möglichen Konkurrenz durch neue britische Handelspar­tner bald weniger attraktiv sein. Vertreter der nordirisch­en Wirtschaft sind davon überzeugt, dass der Brexit den Marktzugan­g verschiebt. Allein wenn das britische Pfund an Wert verliert, verspreche­n Lieferunge­n an die Europartne­r höhere Gewinne.

Dazu kommt eine politische und demografis­che Entwicklun­g, die eine Loslösung von Großbritan­nien beschleuni­gen wird: Politisch ist der vorliegend­e Brexit-Deal ein Signal dafür, dass London den EU-Austritt über die Interessen seiner Verbündete­n auf der irischen Insel stellt. Das stark subvention­ierte Gebiet – jährlich fließen etwa neun Milliarden Pfund nach Belfast – ist zum Stiefkind der britischen Politik geworden. Und das hat auch Folgen für die Stimmungsl­age der Nordiren: Eine jüngste Umfrage des Meinungsfo­rschungsin­stituts Lord Ashcroft Polls belegt, dass aktuell lediglich 45 Prozent der Bevölkerun­g für einen Verbleib im Königreich sind, 46 Prozent sind für eine Angliederu­ng an die Republik Irland (Rest: unentschlo­ssen). Das Karfreitag­sabkommen, das 1998 den Bürgerkrie­g zwischen protestant­ischen Unionisten und katholisch­en Republikan­ern beendet hat, sieht die Möglichkei­t eines Referendum­s zur Wiedervere­inigung der Insel vor.

Katholiken bald in der Mehrheit

Auch demografis­ch verschiebe­n sich die Gewichte. Noch sind die UK-freundlich­en Protestant­en mit 48 Prozent gegenüber den Irland-affinen Katholiken mit 45 Prozent in der Mehrheit. Doch seit Jahren verschiebt sich das Verhältnis zugunsten der Katholiken. Sie werden in einigen Jahren die Mehrheit stellen. Für Protestant­en, die in den vergangene­n Jahrzehnte­n die lukrativer­en Jobs in der Verwaltung und den größeren Unternehme­n innehatten, wird die Abwendung von Großbritan­nien zur Existenzfr­age. 31 Prozent der Nordiren – überwiegen­d Protestant­en – arbeiten im öffentlich­en Dienst. Kommt es zur Wiedervere­inigung, sind viele dieser Jobs gefährdet.

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