Die Presse

Der südamerika­nische Fluch: Ein Kontinent

Analyse. Korruption, Nepotismus, Machtmissb­rauch, soziale Ungerechti­gkeit, Rezession: In Bolivien, Chile, Argentinie­n, Brasilien und anderen Staaten treten die immanenten Probleme Südamerika­s wieder mit aller Macht zutage. Oft reicht ein Funke für den Aus

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Südamerika durchlebt in diesen Wochen ein kontinenta­les Dej`´a-vu: Auf den Straßen von La Paz verprügeln Polizisten in schwerer Montur indigene Anhänger des Movimento al socialismo, wie vor der Amtsüberna­hme von Evo Morales, dem am Montag ins mexikanisc­he Exil geflüchtet­en Ex-Präsidente­n. Chiles Jugend rebelliert gegen das Erbe der Militärdik­tatur – wie schon 2007 und 2011, nur diesmal brennen U-Bahn-Stationen, Banken und Supermärkt­e. Argentinie­n taumelt einem neuen Staatsbank­rott entgegen, wie Ende 2001. Und in Brasilien kam Lula da Silva vor zehn Tagen aus dem Gefängnis und versprach – wie nach seiner ersten Haftentlas­sung 1985 – die Mobilisier­ung der Arbeiterkl­asse gegen die Militärs, die in der Regierung Bolsonaro prominent vertreten sind.

Die Generäle, die aus dem Fokus der Medien gerutscht waren, kehrten als entscheide­nder Machtfakto­r zurück: in Venezuela, wo sie den Diktator Maduro stützen; in Chile, wo sie die geltende Rechtsordn­ung – und damit die Privilegie­n der Elite – bewahren; in Peru, wo sie einen dramatisch­en Machtkampf zwischen Parlament und Präsident zugunsten des Staatschef­s entschiede­n haben; und in Bolivien, wo sie Morales zum Rücktritt zwangen.

Südamerika steckt tief in einem Labyrinth. Schon ehe Argentinie­ns Wirtschaft Mitte August binnen Stunden ein Drittel ihres Gesamtwert­s verlor, hatte der Internatio­nale Währungsfo­nds Südamerika eher laue Aussichten prophezeit. Gerade einmal 0,6 Prozent werde die Wirtschaft 2019 wachsen. Die Weltbank errechnete eine Zunahme von maximal 0,8 Prozent – deutlich zu niedrig, um Wohlstand zu schaffen oder gar zu mehren. Doch nach dem Ausbruch des Flächenbra­nds dürfte es schwer werden, die Kontinenta­lbilanz am Jahresende überhaupt noch in schwarzen Zahlen zu schreiben. Chile, das Jahrzehnte stetig gewachsen ist, und auch Bolivien, seit 2008 im Plus, könnten durch die politische­n Turbulenze­n in die Rezession rutschen, die Ecuador, Argentinie­n und Venezuela längst erfasst hat.

Die Straßen von La Paz spiegeln die Fragilität des Landes in der Woche eins nach Morales wider. Arbeiter der Stadtverwa­ltung räumen die Barrikaden ab, die Anhänger der Opposition im Chaos des vorigen Wochenende­s errichtet haben, als die Polizei geschlosse­n den Dienst verweigert hat. Nun patrouilli­eren die Polizisten wieder, im Dienst einer neuen Regierung – und geraten mit den Anhängern des gestürzten Präsidente­n aneinander, die in Gruppen aus der Vorstadt El Alto, die sich auf dem andinen Hochplatea­u oberhalb von La Paz ausbreitet, herunterko­mmen.

Sie protestier­en gegen Jeanine A´n˜ez, die ehemalige Vizepräsid­entin des Senats, die sich am Dienstagab­end im Parlament zur Übergangsp­räsidentin ausgerufen hat, obwohl zwei Drittel der Abgeordnet­en nicht anwesend waren. Die 52-jährige Rechtsanwä­ltin wurde freilich vom obersten Gericht anerkannt und konnte sich die Unterstütz­ung von Polizei und Militärs sichern.

Obgleich sie versichert­e, das Land befrieden zu wollen und binnen 90 Tagen freie Wahlen auszurufen, machten ihre konkreten Amtshandlu­ngen nicht den Anschein einer Aussöhnung. Am Donnerstag berief sie ein Kabinett aus leidenscha­ftlichen Kritikern des Ex-Präsidente­n und dessen Partei, Movimiento al socialismo (MAS), ein. Der für in

nere Sicherheit zuständige Minister, A´lvaro Murillo, etwa erklärte gleich nach Amtsüberna­hme, er werde sofort die „Jagd“auf den Ex-Minister Juan Ramon´ Quintana beginnen, den er als Verantwort­lichen für die MAS-Proteste in El Alto ausmacht. Die neue Kommunikat­ionsminist­erin drohte, Journalist­en zu verhaften, wenn diese „destabilis­ierend“berichten sollten. Fünf argentinis­che TV-Teams mussten sich am Donnerstag­abend in die Botschaft ihres Landes flüchten.

Neo-Präsidenti­n A´n˜ez wird per Dekret regieren müssen, denn in beiden Parlaments­kammern hatte die Morales-Partei zwei Drittel der Sitze inne. Nach bolivianis­chen Medienberi­chten hat A´n˜ez begonnen, Brücken zum gemäßigten Flügel des MAS zu bauen, um die Wahl zu organisier­en. Sie muss die Wahlbehörd­e neu strukturie­ren und das manipulier­te Wählerverz­eichnis neu erstellen. Darum rechnen bolivianis­che Experten nicht mit einer Neuwahl vor April. Die neue Präsidenti­n wird sich deshalb rechtzeiti­g um eine Verlängeru­ng ihres Status bemühen müssen. In ersten Interviews aus seinem mexikanisc­hen Exil hat der abgesetzte Staatschef Evo Morales Widerstand angekündig­t.

Was das bedeuten kann, zeigt ein Blick in die Geschichts­bücher: 2003 blockierte die Vorstadt El Alto monatelang den Regierungs­sitz La Paz und erzwang den Rücktritt des Präsidente­n, Gonzalo Sanchez´ de Losada.

Den Rest der turbulente­n Amtszeit bis 2005 regierte Carlos Mesa. Der frühere Journalist war am 20. Oktober der wichtigste Rivale von Evo Morales. Der gemäßigte Sozialdemo­krat könnte in den nächsten Monaten im Machtkampf zwischen den Morales-Verteidige­rn und dessen radikalen Gegnern zerrieben werden. Deren Führer, der 40-jährige Anwalt Luis Fernando Camacho aus der TieflandMe­tropole Santa Cruz, stand am Abend der Amtsüberna­hme neben der neuen Präsidenti­n A´n˜ez – und hielt eine Bibel in der Hand. Die ebenso religiöse wie radikale Rechte hat mächtige Fürspreche­r: Brasiliens Präsidente­n Jair Bolsonaro und den wohl wieder mächtigste­n Mann in Südamerika: US-Präsident Donald Trump.

Einen Monat dauert die heftigste Protestwel­le seit der Rückkehr des Landes zur Demokratie bereits an – und eine Lösung ist nicht in Sicht. Was als Aufstand von Mittelschü­lern in der Hauptstadt­region über eine Fahrpreise­rhöhung von umgerechne­t vier Euro-Cent begann, weitete sich zu einem Massenaufs­tand im gesamten Land aus. Mindestens 25 Menschen starben seither, Hunderte wurden verletzt, mindestens 3000 kamen in Haft. Sicherheit­sorgane, Justiz und die Regierung sind überforder­t. Präsident Sebastia´n Pin˜era schickte erst Soldaten auf die Straßen, und als das nichts half, machte er Angebote, um die soziale Situation der protestier­enden Mittelschi­cht zu verbessern. Doch diese will keine Systemanpa­ssung, sie will einen neuen Staat.

Die Proteste richten sich gegen das Erbe der Pinochet-Diktatur. Gegen ein System, das einerseits sämtliche Lebensbere­iche den Gesetzen des freien Markts aussetzte, aber anderersei­ts nichts unternahm, um die Einhaltung dieser Regeln zu kontrollie­ren. Heute sind elf der 15 Millionen Chilenen im arbeitsfäh­igen Alter ver- und oftmals überschuld­et – bei Banken, die im Besitz der gleichen Familienho­ldings stehen wie Versicheru­ngen, Handelsrie­sen, Energiever­sorger.

Die jähe Verzweiflu­ng über diese moderne Schuldknec­htschaft erklärt die Vehemenz der Proteste, die allmählich auch die wirtschaft­lichen Fundamente des Vorzeigela­nds erschütter­n. Der chilenisch­e Peso, lang eine der stabilsten Währungen des Kontinents, verlor zwölf Prozent seit Beginn der Unruhen. Der Wiederaufb­au der bis jetzt beschädigt­en öffentlich­en Infrastruk­tur dürfte mindestens vier Milliarden Euro verschling­en. Dazu kommen die Kosten für private Infrastruk­tur. Und all der Schäden, die möglicherw­eise noch folgen werden.

Nach besonders brutalen Auseinande­rsetzungen erwog Pin˜era erstmals, eine neue Verfassung ausarbeite­n zu lassen, anstelle des bisher geltenden Grundgeset­zes von 1980. In diesem hatten die Militärs ihr Wirtschaft­s- und Gesellscha­ftsmodell zementiert und mit Klauseln versehen, die von keiner demokratis­chen Regierung seither verändert werden konnten. Nun tobt der Streit, wer ein neues Grundgeset­z ausarbeite­n solle.

Pin˜era schlug das Parlament vor, in dem seine Koalition eine Mehrheit und er ein Vetorecht hat. Auf heftigen Widerspruc­h aus der Opposition hin ließ sich Pin˜era überzeugen, im April 2020 ein Plebiszit über einen Verfassung­sprozess abzuhalten, der sich über die nächsten zwei Jahre ziehen könnte. Ob der präsentier­te Kompromiss die Gewaltwell­e stoppen kann, wird sich in den nächsten Tagen herausstel­len. Während des vergangene­n Monats haben sich einige Gruppen radikalisi­ert und wollen erst einlenken, wenn Sebastia´n Pin˜era fällt.

Bang verfolgen die Argentinie­r die Vorgänge in ihren Nachbarlän­dern. Denn nicht nur die Bilder aus La Paz und Santiago de Chile erinnern sie an ihre schwere Krise in den Wochen des Staatsbank­rotts 2001. Auch die finanziell­e Situation des Landes am Ende der Regierung Macri ähnelt jener vor 18 Jahren. Am 10. Dezember übernimmt der Peronist Alberto Fernandez´ ein Land, das weder die Zinsraten für seine Schulden begleichen kann noch Kredite zurückzahl­en. Im Jahr 2020 muss Argentinie­n mindestens 25 Milliarden Dollar für seinen Schuldendi­enst aufbringen, aber das Land hat nach dem schweren Zusammenbr­uch der Wirtschaft seit April 2018 keine Möglichkei­t, dafür aufzukomme­n. „Argentinie­n braucht keinen Doktor“, kommentier­te Uruguays kauziger ExPräsiden­t Jose´ Mujica, „Argentinie­n braucht einen Zauberer.“

Kann Alberto Fernandez´ das schaffen? Der langjährig­e Politikpro­fi gilt als pragmatisc­h, erfahren und sehr intelligen­t. In der Bolivien-Krise ergriff er deutlich Partei für Evo Morales und gehörte zu den führenden Vertretern der Putschthes­e. Damit stand er im fundamenta­len Gegensatz zu Brasiliens Präsident Bolsonaro und Donald Trump. Nicht wenige Argentinie­r beobachten das mit Sorge, denn es ist kein Geheimnis, dass Fernandez´ das Verhältnis zu Washington nicht über Gebühr belasten darf, wenn er die Finanzprob­leme des Landes einigermaß­en in den Griff bekommen will.

Vor zehn Tagen telefonier­te Fernandez´ erstmals mit Trump, der ihn vor Weihnachte­n noch in Washington empfangen will. Angeblich hat der US-Präsident dem Argentinie­r seine Unterstütz­ung bei den Gesprächen mit dem Internatio­nalen Währungsfo­nds (IWF) zugesagt, die sehr heikel werden dürften. Argentinie­n hat vom IWF einen Kredit von 45 Milliarden Dollar bekommen, die es ab 2021 zurückzahl­en muss. Fernandez´ muss den Fonds um Aufschub bitten. Und er muss mit dem IWF die privaten Gläubiger des Landes vertrösten. Mehr als 60 Milliarden Dollar sollen „reprofilie­rt“werden. Auch hier stehen schwierige Gespräche an.

Sicher ist: Auf einen neuen Kredit kann Fernandez´ nicht hoffen. Aber sicher

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