Der talentierte Doktor Höttl
Zeitgeschichte. Das Leben eines Konjunkturritters und Wendehalses. Sind wir am Ende so, wir Österreicher?, fragt man sich nach der Lektüre der Biografie des Wilhelm Höttl.
Privatschulen haben oft den löblichen Zweck, schwer zu bändigende Sprösslinge aus betuchtem Haus zur Matura zu bringen. So war es in den Fünfzigerjahren auch in Bad Aussee, zu den Schülern der 1956 gegründeten Privatmittelschule gehörten zumindest kurzfristig Barbara Frischmuth, Karin Brandauer, Niki Lauda, Jochen Rindt, Helmut Marko, Andre´ Heller, auch Hans Pusch, Sekretär von Kanzler Sinowatz.
Eine merkwürdige Schule: Jede Woche kamen plötzlich neue Schüler dazu. Man sprach im Ort von der „Höttl-Schule“, nach ihrem Gründer und Direktor, Wilhelm Höttl, um dessen dubiose Vergangenheit es unzählige Gerüchte gab. Der Mann lieferte ständig Gesprächsstoff, dabei wirkte er als Spaziergänger mit seinem Wetterfleck wie ein jovialer pensionierter Beamter. Er, der
Freund von Adolf Eichmann, habe durch seine Kontakte mit den NS-Bonzen ein Riesenvermögen angehäuft und in der Gegend Gold vergraben, hieß es, und damit die Schule finanziert. Der Lehrkörper bestünde aus ehemaligen Nationalsozialisten.
Die Schüler verstanden damals zu wenig von Politik, aber Andre´ Heller erinnert sich an ein traumatisches Erlebnis in diesem, wie er es nannte, „Nazi-Reservat“: Als er 1958 zum ersten Mal das Klassenzimmer in Bad Aussee betrat, sagte Wilhelm Höttl zu den Mitschülern, in Anspielung auf Hellers jüdische Herkunft: „Das ist der Heller, setzt euch nicht neben ihn, der hat böses Blut.“„Mich hat der Höttl politisiert“, so Heller.
Wilhelm Höttl wurde als „Held der Fußnote“bezeichnet. Der 1915 in Wien geborene ehrgeizige und gebildete Mann kommt in unzähligen Schriften über die Zeit des Dritten Reichs vor, nebenbei, gleichsam als Berufszeitzeuge, beiläufig Anwesender, in Fernsehdokus von Hugo Portisch bis Guido Knopp. „Geh zum Höttl, der weiß das“, sagte man unter recherchierenden Journalisten. Hat keiner hinterfragt, wie tief diese schwadronierende Auskunftsperson selbst verstrickt war in die Gräueltaten. Hans Pusch soll Mitte der 1980er-Jahre in Aussee vorbeigeschaut haben bei Höttl. Thema der Anfrage: die Kriegsvergangenheit von Kurt Waldheim.
Endlich hat nun ein Historiker, der sich schon viele Jahre mit Höttl beschäftigt hat, ihn auch zweimal persönlich getroffen und interviewt hat, alles dargelegt, was man nach derzeitiger Aktenlage über den „ewigen Willi“(ein CIA-Zitat) wissen muss. Es ist Martin Haidinger, der renommierte Zeitgeschichtler und ORF-Journalist, dem wir das gut lesbare Buch über Höttl zu verdanken haben. Es richtet sich an eine geschichteinteressierte Leserschaft und versteht zu packen: Man schaut dem Historiker bei der Arbeit über die Schulter und staunt über die Ergebnisse, die er zutage fördert.
Man möchte fast sagen, wäre es angesichts des Themas nicht unangebracht: Es ist eine amüsante Lektüre. Es ist nämlich erstaunlich, in welchen Lügengebäuden sich ein Mensch, wenn er kaltblütig genug ist, wohnlich einrichten kann und damit auch noch durchkommt. Als Höttl von amerikanischen Agenten verhört wurde, soll sogar der Lügendetektor versagt haben.
Man reibt sich die Augen vor Staunen über die Berg- und Talfahrt dieser Kriegsund Nachkriegsbiografie: Man entdeckt Höttl, den geheimnisvollen Pseudoaristokraten, der nach 1945 noch 55 Jahre im Ausseerland lebte, genauso wie den dämonischen und skrupellosen Nazi. Es hing offenbar mit der Weltsicht der Zeitzeugen zusammen, wie der Mann erschien. Ein fruchtbares Feld für den Historiker, aber ein Minenfeld für Journalisten, die nach „G’schichteln“aus der NS-Zeit lechzten und nach Strich und Faden mit den süffisant erzählten Indiskretionen belogen wurden.
Wenn jemand wie Höttl seit seinem 19. Lebensjahr mit Nachrichtendiensten zu tun hatte, wurde ihm das Lügen zur zweiten Natur. Haidinger recherchierte akribisch: Wie Höttl als illegaler Nazi seine jahrzehntelange Agententätigkeit im Sicherheitsdienst der SS, dem SD, begann, wie er im Untergrund wühlte, bis Österreich 1938 fiel. Wie er zwischen Braun und katholisch lavierte. Wie er sein Talent ausbildete, „sich durch die Rivalitäten der Gewaltigen hindurchzuschlängeln“, und sich so in der NS-Hierarchie hinaufarbeitete. Schließlich wurde er Spionagechef für den Balkan. Bei seinen Annäherungen an Reinhard Heydrich, Adolf Eichmann und Ernst Kaltenbrunner hatte er stets die Karriere im Blick. Gesinnung galt nichts, nur Taktik, Strategie, Machtkalkül.
Nach 1945 wurde er ein Meister der Mystifikation, schummelte „Informationen“in Akten und Archive hinein, um sie dann als Belege für seine Geschichtserzählung zu zitieren. Und um sich damit über Wasser zu halten, bis zu seinem Tod 1999. Von den Deportationen und Massenmorden an Juden habe er en passant in Ungarn 1944 etwas mitbekommen. Ungeklärt ist, ob er mit dem berüchtigten „Goldzug“das Vermögen der Holocaust-Opfer ins Salzkammergut transportieren ließ.
Undurchsichtig auch die Zusammenarbeit Höttls mit den amerikanischen Geheimdiensten, sie begann bereits in den letzten Kriegsmonaten. Er bot sich als Informant an. Es waren wohl diese Kontakte, die ihn nach 1945 vor Strafverfolgung schützten. Ständig ging Höttl nun mit seinen „Kenntnissen“hausieren, „Willi“ging der CIA zu Beginn des Kalten Kriegs wegen seiner wertlosen Informationen schon auf die Nerven.
Zeitgeschichtlich bemerkenswert wurde freilich sein Zeugenstatus bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen, und zwar sein Verweis auf ein Gespräch mit Adolf Eichmann: Eichmann erwähnte darin sechs Millionen Juden, die er in den Tod geschickt habe. Höttl, der sich nicht als Zeuge in Jerusalem beim Prozess gegen Eichmann meldete (nach Israel zu reisen war denn doch zu riskant für einen Mann mit seiner Karriere), lieferte damit eine wertvolle Zeugenaussage. Stand er wirklich auf der richtigen Seite des Gerichtsschrankens?
Erstaunlich ist, dass ein Mann wie Wilhelm Höttl im Österreich der Zweiten Republik Karriere machen konnte. Seine Schule war zwar nach wenigen Jahren insolvent, doch 1995 erhielt der ehemalige SS-Obersturmbannführer in einem denkwürdigen Festakt im Prunksaal der Grazer Burg das Goldene Ehrenzeichen des Landes Steiermark. Die höchste Auszeichnung des Landes, für seine Verdienste als Schulgründer und Historiker. Die Aberkennung wird bis heute diskutiert. Bis jetzt ohne Ergebnis.
Milde gesagt, ist Höttls Leben die Story eines Konjunkturritters, der, so Haidinger, hoch gepokert habe „und am Ende immer obenauf schwamm“. Dass der Mann einmal friedlich in seinem Bett, die Auszeichnung des Landes Steiermark auf dem Nachtschränkchen, entschlafen würde, war schwer voraussehbar. Vielleicht nicht einmal von ihm selbst. Wären wir immun gegen Karrierechancen in einem perfiden Regime? Das Buch bringt zum Nachdenken.