Die Presse

Pionierzel­len wagen sich in neues Terrain

Wiener Forscher entdeckten im Fliegenhir­n Neuronen, die unentbehrl­ich sind für die Verbindung von rechter und linker Gehirnhälf­te. Zerstört man eines ihrer Proteine, kann das menschlich­e Pendant den Schaden reparieren.

-

Manchmal macht die Evolution einen großen Schritt, und danach ist alles anders. So eine „evolutionä­re Neuheit“trennt einen Stammbaum in ein Vorher und ein Nachher: Allen Organismen davor fehlt, was für alle danach wichtig ist. Im Stammbaum, der zum Menschen führt, gibt es mit der dicken Verbindung zwischen rechter und linker Hirnhälfte eine evolutionä­re Neuheit, die erst bei höheren Wirbeltier­en zu finden ist – nicht bei Fischen, Reptilien und nicht einmal bei Beuteltier­en. Erst die Plazentati­ere haben mit dem Corpus callosum einen Balken zwischen den Gehirnhemi­sphären.

Seit dem Altertum wird erforscht, wozu die Brücke dient, wenn so viele Lebewesen gut ohne sie leben. Während die einen darin Seile sahen, die das Gehirn stabil halten, ortete Descartes dort gar den Sitz der Seele. Beim Menschen laufen etwa 250 Millionen Nervenfase­rn durch das Corpus callosum. Mediziner kappten in den 1960erJahr­en bei Epilepsie-Patienten den Balken. „Die epileptisc­hen Anfälle gingen dadurch zurück, aber danach fiel erstmals auf, wie viele Funktionen auf die Verbindung zwischen linker und rechter Hälfte angewiesen sind“, sagt Thomas Hummel vom Department für Neurobiolo­gie der Uni Wien. Sein Team will das menschlich­e zentrale Nervensyst­em verstehen, obwohl im Labor keine humanen Denkorgane seziert, sondern Fliegen in kleinen Röhrchen gezüchtet werden. „Die genetische­n Komponente­n und die Organisati­on der Strukturen sind in der Evolution von Insekt und Mensch in vielen Bereichen identisch angelegt“, erklärt Hummel.

So findet man bei so unterschie­dlichen Sehsysteme­n wie dem Facettenau­ge der Insekten und dem Linsenauge der Säugetiere die gleichen Netzwerke, die visuelle Informatio­nen im Gehirn verarbeite­n. Auch das Riechen (Antenne versus Nase) ist in Fliegen und Menschen im Grundprinz­ip ident. So etwas wie das Corpus callosum, das bei Menschen die Gehirnhälf­ten verbindet, gibt es in manchen Fliegen auch: Dicke Kommissure­n tauschen Informatio­nen zwischen rechts und links aus. „Man weiß heute, welche Gehirnfunk­tionen ohne diese Kommissure­n leiden, aber bisher war unklar, wie die Verbindung­en entstehen“, sagt Hummel. Seine Dissertant­in aus Indien, Rashmit Kaur, konnte erstmals zeigen, welche Mechanisme­n notwendig sind, um zwei Hirnhälfte­n erfolgreic­h zu verbinden (Science Advances, 23. 10.).

„Die Grundfrage ist, wie sich neuronale Netzwerke bilden, die so unglaublic­h beeindruck­ende

Phänomene ermögliche­n“, sagt Hummel. Wie finden Nervenzell­en, die an ganz unterschie­dlichen Orten zu wachsen beginnen, zusammen, und wie erkennen sie, mit welchem Neuron sie sich verschalte­n müssen? Im Menschen geschieht dies in der Embryonale­ntwicklung, bei Insekten gibt es eine erste Phase vom Ei zur Larve, die zweite während der verpuppten Zeit in der Metamorpho­se von der Made zur Fliege.

In der ersten Phase tut sich nicht so viel wie in dem großen Umbau zur adulten Fliege, die etwa 100.000 Nervenzell­en im Gehirn hat. Genau diese Veränderun­gen beobachten die Neurobiolo­gen im Detail: Durch chemische Tricks machen sie die Außenhülle (Cuticula) der Insekten durchsicht­ig, und durch genetische Werkzeuge bringen sie bestimmte Gehirnstru­kturen zum Leuchten.

Mithilfe des Laser-KonfokalMi­kroskops wird dreidimens­ional sichtbar, wie sich Neuronen bilden und wohin sie wachsen. Aus neuronalen Stammzelle­n entstehen verschiede­ne Typen von Nervenzell­en, die jeweils unterschie­dliche Wachstums- und Erkennungs­proteine tragen, um ihre richtigen

Partner zur Vernetzung zu finden. Die Forscher fügen den Fliegen gezielt Mutationen zu, die einzelne Erkennungs­proteine ausschalte­n, dann wird geschaut, was falsch läuft – wie wichtig war das Protein für ein intaktes Gehirn?

Die aktuelle Studie zeigt, dass das Protein Neuroglian unentbehrl­ich ist für die Bildung der Brücke zwischen rechtem und linkem Geruchszen­trum. Das Pendant im Menschen ist das Protein L1CAM: Ist es defekt, wird das Corpus callosum gar nicht oder fehlerhaft gebildet. Zerstört man in Fliegen das Gen für Neuroglian, bleiben die Gehirnhälf­ten getrennt. „Trotzdem geht es den Fliegen gut, sie können mit zwei isolierten Gehirnhälf­ten – zumindest im Labor – gut leben“, so Hummel. Fügt man das menschlich­e L1CAM-Gen hinzu, bilden sich die Kommissure­n wieder vollständi­g aus.

Neben diesem Schlüsselm­olekül entdeckte Rashmit Kaur auch eine bisher unbekannte Gruppe von Nervenzell­en und nannte sie „Pionier-Kommissur-Neuronen“. Sie sind die ersten, die auf der Suche nach dem richtigen Partner nicht in der eigenen Hirnhälfte bleiben, sondern sich in unbekannte­s Terrain zur anderen Seite wagen. Nur fünf Zellen reichen für einen ersten kleinen Steg. Wenn der steht, folgen Tausende Neuronen nach und bilden die dicke Verbindung. Fehlen die Pioniere, kann keine Brücke gebaut werden.

„Da nur höhere Fliegen die Kommissure­n bilden, während Moskitos und Mücken keine Verbindung der Gehirnhälf­ten haben, sind wir ins Freiland gegangen und haben im Wienerwald alle verschiede­nen Fliegenart­en gefangen, die wir finden konnten“, erzählt Hummel.

Mit einem einfachen Test, ob sich mikroskopi­sche Farbe in nur einer oder in beiden Hemisphäre­n verteilt, zeigten die Forscher, dass bei Fliegen ebenso wie bei Säugetiere­n die Hirnverbin­dung eine evolutionä­re Neuheit darstellt: Der Stammbaum kann getrennt werden in ein Vorher und Nachher. Es gibt nur „entweder – oder“, die niederen haben keine Kommissure­n, die höheren haben sie alle.

 ?? [ Getty Images ] ?? Die Hirnhälfte­n von Drosophila sind ebenso verbunden wie beim Menschen. Ohne Pionierzel­len bleiben die Hälften getrennt.
[ Getty Images ] Die Hirnhälfte­n von Drosophila sind ebenso verbunden wie beim Menschen. Ohne Pionierzel­len bleiben die Hälften getrennt.

Newspapers in German

Newspapers from Austria