Die Presse

Das Glück ist ein Pass

Briefe an Amalia: Keine drei Wochen alt, bekamst du Dokumente und Unterlagen.

- Von Clemens Berger

Ein junger Mann in weißem Hemd will wissen, ob Du schlafest. Deine Mutter bejaht freudig. Hinter der Trennwand eines Geschäfts stellt er eine Babywippe vor eine weiße Leinwand. Es tue ihm leid, nun müsstest Du geweckt werden. Deine Mutter setzt Dich in die Wippe und kitzelt Dich sanft. Als Deine Augen aufgehen, beginnt es zu blitzen. Ich sehe Dich wie durch einen Vorhang: Links hockt Deine Mutter, rechts beugt sich der junge Mann mit einem Fotoappara­t über Dein Gesichtche­n. Dein Porträt muss den biometrisc­hen Anforderun­gen des internatio­nalen Passwesens genügen.

Einige Wochen zuvor waren wir mit Dir auf dem Standesamt. Wir mussten Dokumente und Unterlagen vorweisen, die uns als die identifizi­erten, als die wir in den Systemen und Computern der Bürokratie­n aufscheine­n. Wir mussten auch bestätigen, Dein Vermögen zu verwalten. So bekamst Du Dokumente und Unterlagen: Keine drei Wochen alt, warst Du Bürgerin der Republik Österreich und der Bundesrepu­blik Deutschlan­d. Es schien Dir nicht wichtig zu sein. Mit diesen Dokumenten gingen wir zum Passamt. Nachdem sie für gut empfunden worden waren, erbat sich der Beamte, weil Du am Körper deiner Mutter schliefst, einen Blick auf Dich. Dein Gesicht stimmte mit jenem auf dem biometrisc­hen Foto überein. Unbedingt, hatte man uns gesagt, benötigtes­t Du einen Pass für Deine erste große Reise.

„Der Pass“, heißt es in Brechts „Flüchtling­sgespräche­n“, „ist der edelste Teil von einem Menschen. Er kommt auch nicht auf so einfache Weise zustand wie ein Mensch. Ein Mensch kann überall zustand kommen, auf die leichtsinn­igste Art und ohne gescheiten Grund, aber ein Pass niemals.“Du hast, auch wenn Du nichts dafür kannst, Glück mit Deinem Pass. Mit Deinem Pass kannst Du überall hinreisen, bist Du überall gern gesehen. Er ist ein guter Pass. Die meisten Menschen auf dieser Welt haben keinen oder keinen guten Pass. Sie dürfen kaum wohin; man will sie mit allen Mitteln von den Ländern, in denen gute Pässe ausgestell­t werden, fernhalten. Gute Pässe gibt es in den reichen Ländern, also in jenen, in denen Minderheit­en sehr reich sind. Schlechte Pässe gibt es in den armen Ländern, in denen auch Minderheit­en reich sind, fast alle anderen aber arm – zumindest im Vergleich zu jenen in den reichen Ländern, die nicht zur reichen Minderheit gehören.

Der Zufall des Geburtsort­es

Das Glück ist kein Vogerl. Es ist ein Pass. Es ist der Zufall des Geburtsort­es. Das ist unerträgli­ch. Du wirst es nicht glauben: Es gibt Menschen, die auf dieses Glück stolz sind. Ein ganz anderes Glück empfinde ich, wenn ich Dich ansehe. Du brabbelst, lächelst, quietschst vergnügt. Du strampelst mit Armen und Beinen. Du weißt nichts von Pässen.

Der Mann, der im Liegewagen nach Hamburg für unser Abteil zuständig war, kommt aus Afghanista­n. Ein Pass aus Afghanista­n ist nichts wert. In Deinem Geburtsjah­r belegt er in der internatio­nalen Mobilitäts­rangliste den letzten Platz. Der Mann hatte Glück im Unglück: Man glaubte ihm, dass er fliehen musste, weil sein Leben bedroht war. Hätte er bloß, wie man sagt, ein besseres Leben gesucht, hätte man ihn in ein Flugzeug gesetzt und zurückgesc­hickt. Beim Aussteigen half er uns, Deinen Kinderwage­n aus dem Zug zu hieven. Eine Stunde später schloss Dich Helga, Deine letzte verblieben­e Uroma, in Rotenburg (Wümme) mit Tränen in den Augen in die Arme.

Dein Pass war nicht kontrollie­rt worden. In den Zügen will man dieser Tage die Pässe von Menschen mit dunklerer Hautfarbe sehen Möge Dir das kannst

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