Sind wir noch zu retten?
Manche wollen weitermachen wie bisher, weil es „eh nicht so schlimm“ist. Andere wiederum glauben an den Weltuntergang, wenn wir nicht sofort dem Autofahren und Fleischessen entsagen. Alte Themen in neuem Gewand: Sündenfall, Untergang, Erlösung. Über Gefah
Wer sind wir? Wer bin ich? Es scheint, als würden heute diese ewigen Fragen der Menschen kaum mehr interessieren. Im Zeitalter der Meinungsblasen und des institutionalisierten Individualismus scheinen Gewissheiten und Wunschbilder über Fragen und Zweifel zu dominieren. Rauben Beschleunigung und die digitale Diktatur dem Menschen die Zeit zum Innezuhalten? Fatal, denn ohne ein Fundament an Werteorientierung werden sie Treibsand der gesellschaftlichen Entwicklungen, zum Spielgeld für Ideologen und Manipulatoren.
Bloß das übliche Jammern eines Älteren über eine neue Zeit? Oder unterscheiden sich die modernen Menschen im Reflektieren über sich selbst, Gott und die Welt tatsächlich von den vorhergehenden Generationen? Wissen wir nicht, denn dazu gibt es keine Daten. Jedenfalls wären Reflexion und Standortbestimmung gerade in einer Zeit essenziell, in der es wie nie zuvor gilt, umweltverträglich zu wirtschaften, um den nachfolgenden Generationen eine Biosphäre zu hinterlassen, in der diese noch leben wollen und können. Menschliches Verhalten bescherte uns Klimawandel und Artensterben. Nun gilt es, durch die richtigen individuellen und gesellschaftlichen Entscheidungen unsere Beziehung zur Biosphäre wieder in Richtung Nachhaltigkeit zu drehen.
Anstehende radikale Veränderungen verursachen Orientierungsprobleme, Zukunfts- und Verlustängste bedingen innere und äußere Konflikte über Art und Ausmaß. Manche wollen weitermachen wie bisher, weil es „eh nicht so schlimm“ist, oder sie wollen zynisch in Saus und Braus genießen, solange es noch geht. Andere wiederum glauben an den Weltuntergang, wenn wir nicht sofort dem Autofahren und Fleischessen entsagen. Alte Themen in neuem Gewand: Sündenfall, Untergang und Erlösung.
Es ist schon wieder eine Zeit der Ideologen. Der Bogen spannt sich von den platten Leugnern der Fakten bis zu den Propheten der totalen Veränderung; es sind die alten Rechts-links-Muster in neuer Verkleidung. Kein Wunder, denn Weltsichten haben mit Persönlichkeitsstruktur zu tun, deren Ausbildung evolutionären, biopsychologischen Regeln unterliegt. Während sich die Rechten und Konservativen immer schon – und gerne im Stil von Don Quijote – als Bewahrer von Kultur, Blut und Boden generieren, hängen die wahren Linken gerne Utopien nach, inkompatibel mit der Natur der Menschen. Zwischen den Glaubenskämpfern geht die auf wissenschaftlichen Erkenntnissen basierende Vernunft verloren. Unerfreulich, denn Ideologien können rasch lebensgefährlich werden, wie die Geschichte des 20. Jahrhunderts zeigt. Aber es ist genau jetzt das Richtige zu tun, um Menschen und allen anderen Wesen das Überleben zu ermöglichen; die Glaubenskämpfer wären zu entmachten, es muss faktenorientiert gehandelt werden. Nicht ganz zufällig fallen mir gerade die laufenden Regierungsverhandlungen zwischen Türkis und Grün ein.
Ach ja, unsere Rationalität!
Doch so einfach ist das nicht mit der menschlichen Rationalität und mit den sachlichen Lösungen, denn ständig stolpern Menschen über ihre eigene Natur. Dem sachlich Richtigen stehen jede Menge Befindlichkeiten im Weg, das ganze Paket an sozialen Anlagen und Bedürfnissen – mehr als 500 Millionen Jahre Stammesgeschichte zusammengeschnürt, macht es die modernen Menschen aus. Diese Anlagen zu verstehen ist nicht trivial, wir wissen aber heute viel mehr darüber denn je zuvor. Sie zu verstehen ist auch drängender denn je zuvor, gilt es doch, sofort zu entscheiden und sachgerecht zu handeln, weil davon die Zukunft von Biosphäre und Menschheit abhängt.
Mit dem realistischen Selbstverständnis hapert es chronisch, auch weil es in der Natur der Menschen liegt, ideologische Erzählungen zu mögen – selbst gegen besseres Wissen. Wenn meist gescheite Artgenossen über sich und die anderen reflektieren, dann hört man höchst Unterschiedliches: Je nach Geschmack und Neigung wären Homo oeconomicus, Homo ludens oder Homo philosophicus entweder Geisteswesen oder doch bloß „ratiomorphe Wesen“, ebenso nackte wie „neotene“Affen, das Ebenbild Gottes, in ihrer Zivilisationsumgebung „verhausschweint“, das Zwischenstadium zum „wahren“, also vollkommenen Menschen, ein Mängelwesen, von Natur aus gut, von ebendieser Natur aus ein Kulturwesen – oder schlicht eine „Sau“, wie es im Austropop-Song hieß. Das Wahre, Schöne, Gute und Böse, die Höhenflüge des Geistes, die menschliche Dummheit und Verkommenheit wurden über die längste Zeit der Menschheitsgeschichte im Rahmen politisch-religiöser Ideologien ausgedeutet. Wer nicht viel weiß, der muss eben vieles glauben, so der Standardwahlspruch der aufklärerisch Bewegten. So einfach ist es aber leider nicht. Heute wissen wir, dass auch jene, die viel wissen, deswegen nicht weniger gern an vieles glauben. Dennoch: Wissen war, ist und bleibt eine der Grundsäulen der Macht. Darum werden die jeweils neuen Info-Technologien – von Gutenbergs Buchdruck bis zur digitalen Revolution – von den Machtlosen ebenso begeistert angenommen wie von den Herrschenden misstrauisch beäugt; um dann flugs in den eigenen Dienst gestellt zu werden.
In einem schleichenden Paradigmenwechsel zur Natur des Menschen verdrängten über die vergangenen Jahrzehnte naturwissenschaftliche Erkenntnisse ideologische Konstrukte, ersetzten krude altwissenschaftliche Theorien. Das Bild von der Conditio humana war noch nie zuvor so breit, so interdisziplinär vernetzt, so kausal, was das Verständnis der Zusammenhänge zwischen den evolutionären Strategien und der Stammesgeschichte mit den Mechanismen der Physiologie, Psyche und Individualentwicklung betrifft. Die empiristischen Naturwissenschaftler entgingen der rationalistischen „Falle der Spekulation“durch Sammeln, Mustersuche, Analysieren und Errichten testbarer Theoriegebäude. Ihre aristotelische, hypothetico-deduktive Methode ließ sie die Kausalitäten der zentralen Mechanismen des Lebens begreifen, den genetischen Code und seine epigenetische Steuerung entschlüsseln. All das geschah in Kohärenz mit einer heutigen Darwinschen Evolutionstheorie, welche die Zusammenhänge zwischen Genetik, Epigenetik, Verhalten und Kultur integriert. So lüften sich rascher denn je zuvor die Nebel um die vielen Geheimnisse der stammesgeschichtlichen Herkunft des Menschen.
Menschen unterscheiden sich voneinander in Aussehen, Persönlichkeit, Weltsichten et cetera – auch weil sie aufgrund der sexuellen Vermehrung in ihren Genvarianten individuell einzigartig sind. Höchst wichtig für die Ausprägung der Phänotypen ist aber die epigenetische Steuerung der Genexpression durch die Einflüsse der Um
Keimbahn weitergegebene Anlagerungen an den Strang der Erbinformation. Doch das ist noch lang nicht alles. So ist der Fötus in der Gebärmutter mütterlichen Geschlechtsund Stresshormonen ausgesetzt, welche die Persönlichkeit und das sozio-sexuelle Verhalten des späteren Erwachsenen erheblich beeinflussen. Damit stellen Mütter ganz unbewusst ihre Nachkommen auf jene Lebensumstände ein, die sie selber während der Schwangerschaft erleben.
Am stärksten geformt werden aber Psyche und Persönlichkeit über die Qualität der nachgeburtlichen Betreuung und die Erfahrungen in den ersten Lebensjahren. Wegen ihres großen Gehirns müssen menschliche Babys im Vergleich zu anderen Säugetieren sehr früh geboren werden. So entstand ein lang offenes Zeitfenster für frühe soziale Einflüsse. Menschen sind unter allen Tieren in ihrer sozialen Orientierung die radikalsten; das zeigt neben der höchst komplexen Ausbildung der Gesichtsmuskulatur zur Kommunikation der Emotionen auch die frühe soziale Bedürftigkeit: Babys, die zwar satt sauber trocken gehalten werden tional, sozial und sogar physiologisch behindert ins Leben.
Menschen wurden zu den sozial komplexesten aller „Kooperationstiere“und zu den nettesten aller Menschenaffen (auch wenn der tägliche Blick in die Medien anderes suggeriert). Zur Menschwerdung trugen zahlreiche Schlüsselinnovationen der Stammesgeschichte bei, allen voran ein großes, höchst leistungsfähiges, aber ebenso störungsanfälliges Gehirn. Es benötigt ganz bestimmte Bedingungen zu seiner optimalen Entwicklung: neben der zuverlässig-sensitiven Betreuung der Babys auch ein Aufwachsen in Kontakt mit Tieren und Natur. Denn Menschen sind „biophil“, eine von Hunderten Eigenschaften, die allen Menschen gemeinsam sind.
Neigung zur Inkonsequenz
Zu diesen „Universalien“zählen Instinktmerkmale wie etwa der Ausdruck der Emotionen, eine ganze Menge an situationsflexibel angelegten sozialen Reaktionen und auch recht einfache soziale Handlungsantriebe; sie stehen etwa hinter den verblüffenden Parallelen in der Entwicklung von Gesellschafts- und Herrschaftsformen. Aus diesen Universalien und aus der Stammesgeschichte des Gehirns erklärt sich auch die erhebliche Neigung des Geisteswesens Menschen zu Irrationalität und Inkonsequenz.
Das Wissen um solche Zusammenhänge erlaubt es unter anderem, informierte Szenarien zur Zukunft der menschlichen Evolution zu entwerfen. Menschen passten sich in der Vergangenheit erstaunlich flexibel und rasch an veränderte Lebensbedingungen an. Aber es bleibt natürlich unklar, ob und wie sich die Menschen an die rasanten Änderungen des Klimas und der Lebensräume einstellen werden.
Skepsis ist allerdings gegenüber den Zukunftsverheißungen der Silicon Valley Boys angebracht, ein sich rasch vergrößerndes Gehirn würde schon technische Lösungen für alle Probleme finden. So erreichte das menschliche Gehirn bereits einen hohen Spezialisierungsgrad, was evolutionär gewöhnlich das Ende der Fahnenstange bedeutet. Höchst spannend wird natürlich, wie Menschen samt ihrer archaischen sozialen Anlagen, Emotionen und kognitiven Mechanismen mit den gegenwärtig enormen technologischen Neuerungen zurechtkommen werden. Sind wir hinreichend gemeinwohlorientiert, dass digitale Revolution, künstliche Intelligenz und genetisches Engineering der Menschheit und der Biosphäre zugutekommen werden?
Zweifel daran schürt der Hunger der digitalen Konzerne und mancher Staaten nach Daten, Wissen, Macht und Kontrolle. Werden auch diese neuen Technologien am Ende von wenigen Mächtigen monopolisiert werden? Und wird das den Zerfall der gesellschaftlich und genetisch bereits heute recht inhomogenen Menschheit in Kasten beschleunigen? Angesichts der Rasanz der