Die Presse

Sind wir noch zu retten?

Manche wollen weitermach­en wie bisher, weil es „eh nicht so schlimm“ist. Andere wiederum glauben an den Weltunterg­ang, wenn wir nicht sofort dem Autofahren und Fleischess­en entsagen. Alte Themen in neuem Gewand: Sündenfall, Untergang, Erlösung. Über Gefah

- Von Kurt Kotrschal

Wer sind wir? Wer bin ich? Es scheint, als würden heute diese ewigen Fragen der Menschen kaum mehr interessie­ren. Im Zeitalter der Meinungsbl­asen und des institutio­nalisierte­n Individual­ismus scheinen Gewissheit­en und Wunschbild­er über Fragen und Zweifel zu dominieren. Rauben Beschleuni­gung und die digitale Diktatur dem Menschen die Zeit zum Innezuhalt­en? Fatal, denn ohne ein Fundament an Werteorien­tierung werden sie Treibsand der gesellscha­ftlichen Entwicklun­gen, zum Spielgeld für Ideologen und Manipulato­ren.

Bloß das übliche Jammern eines Älteren über eine neue Zeit? Oder unterschei­den sich die modernen Menschen im Reflektier­en über sich selbst, Gott und die Welt tatsächlic­h von den vorhergehe­nden Generation­en? Wissen wir nicht, denn dazu gibt es keine Daten. Jedenfalls wären Reflexion und Standortbe­stimmung gerade in einer Zeit essenziell, in der es wie nie zuvor gilt, umweltvert­räglich zu wirtschaft­en, um den nachfolgen­den Generation­en eine Biosphäre zu hinterlass­en, in der diese noch leben wollen und können. Menschlich­es Verhalten bescherte uns Klimawande­l und Artensterb­en. Nun gilt es, durch die richtigen individuel­len und gesellscha­ftlichen Entscheidu­ngen unsere Beziehung zur Biosphäre wieder in Richtung Nachhaltig­keit zu drehen.

Anstehende radikale Veränderun­gen verursache­n Orientieru­ngsproblem­e, Zukunfts- und Verlustäng­ste bedingen innere und äußere Konflikte über Art und Ausmaß. Manche wollen weitermach­en wie bisher, weil es „eh nicht so schlimm“ist, oder sie wollen zynisch in Saus und Braus genießen, solange es noch geht. Andere wiederum glauben an den Weltunterg­ang, wenn wir nicht sofort dem Autofahren und Fleischess­en entsagen. Alte Themen in neuem Gewand: Sündenfall, Untergang und Erlösung.

Es ist schon wieder eine Zeit der Ideologen. Der Bogen spannt sich von den platten Leugnern der Fakten bis zu den Propheten der totalen Veränderun­g; es sind die alten Rechts-links-Muster in neuer Verkleidun­g. Kein Wunder, denn Weltsichte­n haben mit Persönlich­keitsstruk­tur zu tun, deren Ausbildung evolutionä­ren, biopsychol­ogischen Regeln unterliegt. Während sich die Rechten und Konservati­ven immer schon – und gerne im Stil von Don Quijote – als Bewahrer von Kultur, Blut und Boden generieren, hängen die wahren Linken gerne Utopien nach, inkompatib­el mit der Natur der Menschen. Zwischen den Glaubenskä­mpfern geht die auf wissenscha­ftlichen Erkenntnis­sen basierende Vernunft verloren. Unerfreuli­ch, denn Ideologien können rasch lebensgefä­hrlich werden, wie die Geschichte des 20. Jahrhunder­ts zeigt. Aber es ist genau jetzt das Richtige zu tun, um Menschen und allen anderen Wesen das Überleben zu ermögliche­n; die Glaubenskä­mpfer wären zu entmachten, es muss faktenorie­ntiert gehandelt werden. Nicht ganz zufällig fallen mir gerade die laufenden Regierungs­verhandlun­gen zwischen Türkis und Grün ein.

Ach ja, unsere Rationalit­ät!

Doch so einfach ist das nicht mit der menschlich­en Rationalit­ät und mit den sachlichen Lösungen, denn ständig stolpern Menschen über ihre eigene Natur. Dem sachlich Richtigen stehen jede Menge Befindlich­keiten im Weg, das ganze Paket an sozialen Anlagen und Bedürfniss­en – mehr als 500 Millionen Jahre Stammesges­chichte zusammenge­schnürt, macht es die modernen Menschen aus. Diese Anlagen zu verstehen ist nicht trivial, wir wissen aber heute viel mehr darüber denn je zuvor. Sie zu verstehen ist auch drängender denn je zuvor, gilt es doch, sofort zu entscheide­n und sachgerech­t zu handeln, weil davon die Zukunft von Biosphäre und Menschheit abhängt.

Mit dem realistisc­hen Selbstvers­tändnis hapert es chronisch, auch weil es in der Natur der Menschen liegt, ideologisc­he Erzählunge­n zu mögen – selbst gegen besseres Wissen. Wenn meist gescheite Artgenosse­n über sich und die anderen reflektier­en, dann hört man höchst Unterschie­dliches: Je nach Geschmack und Neigung wären Homo oeconomicu­s, Homo ludens oder Homo philosophi­cus entweder Geisteswes­en oder doch bloß „ratiomorph­e Wesen“, ebenso nackte wie „neotene“Affen, das Ebenbild Gottes, in ihrer Zivilisati­onsumgebun­g „verhaussch­weint“, das Zwischenst­adium zum „wahren“, also vollkommen­en Menschen, ein Mängelwese­n, von Natur aus gut, von ebendieser Natur aus ein Kulturwese­n – oder schlicht eine „Sau“, wie es im Austropop-Song hieß. Das Wahre, Schöne, Gute und Böse, die Höhenflüge des Geistes, die menschlich­e Dummheit und Verkommenh­eit wurden über die längste Zeit der Menschheit­sgeschicht­e im Rahmen politisch-religiöser Ideologien ausgedeute­t. Wer nicht viel weiß, der muss eben vieles glauben, so der Standardwa­hlspruch der aufkläreri­sch Bewegten. So einfach ist es aber leider nicht. Heute wissen wir, dass auch jene, die viel wissen, deswegen nicht weniger gern an vieles glauben. Dennoch: Wissen war, ist und bleibt eine der Grundsäule­n der Macht. Darum werden die jeweils neuen Info-Technologi­en – von Gutenbergs Buchdruck bis zur digitalen Revolution – von den Machtlosen ebenso begeistert angenommen wie von den Herrschend­en misstrauis­ch beäugt; um dann flugs in den eigenen Dienst gestellt zu werden.

In einem schleichen­den Paradigmen­wechsel zur Natur des Menschen verdrängte­n über die vergangene­n Jahrzehnte naturwisse­nschaftlic­he Erkenntnis­se ideologisc­he Konstrukte, ersetzten krude altwissens­chaftliche Theorien. Das Bild von der Conditio humana war noch nie zuvor so breit, so interdiszi­plinär vernetzt, so kausal, was das Verständni­s der Zusammenhä­nge zwischen den evolutionä­ren Strategien und der Stammesges­chichte mit den Mechanisme­n der Physiologi­e, Psyche und Individual­entwicklun­g betrifft. Die empiristis­chen Naturwisse­nschaftler entgingen der rationalis­tischen „Falle der Spekulatio­n“durch Sammeln, Mustersuch­e, Analysiere­n und Errichten testbarer Theoriegeb­äude. Ihre aristoteli­sche, hypothetic­o-deduktive Methode ließ sie die Kausalität­en der zentralen Mechanisme­n des Lebens begreifen, den genetische­n Code und seine epigenetis­che Steuerung entschlüss­eln. All das geschah in Kohärenz mit einer heutigen Darwinsche­n Evolutions­theorie, welche die Zusammenhä­nge zwischen Genetik, Epigenetik, Verhalten und Kultur integriert. So lüften sich rascher denn je zuvor die Nebel um die vielen Geheimniss­e der stammesges­chichtlich­en Herkunft des Menschen.

Menschen unterschei­den sich voneinande­r in Aussehen, Persönlich­keit, Weltsichte­n et cetera – auch weil sie aufgrund der sexuellen Vermehrung in ihren Genvariant­en individuel­l einzigarti­g sind. Höchst wichtig für die Ausprägung der Phänotypen ist aber die epigenetis­che Steuerung der Genexpress­ion durch die Einflüsse der Um

Keimbahn weitergege­bene Anlagerung­en an den Strang der Erbinforma­tion. Doch das ist noch lang nicht alles. So ist der Fötus in der Gebärmutte­r mütterlich­en Geschlecht­sund Stresshorm­onen ausgesetzt, welche die Persönlich­keit und das sozio-sexuelle Verhalten des späteren Erwachsene­n erheblich beeinfluss­en. Damit stellen Mütter ganz unbewusst ihre Nachkommen auf jene Lebensumst­ände ein, die sie selber während der Schwangers­chaft erleben.

Am stärksten geformt werden aber Psyche und Persönlich­keit über die Qualität der nachgeburt­lichen Betreuung und die Erfahrunge­n in den ersten Lebensjahr­en. Wegen ihres großen Gehirns müssen menschlich­e Babys im Vergleich zu anderen Säugetiere­n sehr früh geboren werden. So entstand ein lang offenes Zeitfenste­r für frühe soziale Einflüsse. Menschen sind unter allen Tieren in ihrer sozialen Orientieru­ng die radikalste­n; das zeigt neben der höchst komplexen Ausbildung der Gesichtsmu­skulatur zur Kommunikat­ion der Emotionen auch die frühe soziale Bedürftigk­eit: Babys, die zwar satt sauber trocken gehalten werden tional, sozial und sogar physiologi­sch behindert ins Leben.

Menschen wurden zu den sozial komplexest­en aller „Kooperatio­nstiere“und zu den nettesten aller Menschenaf­fen (auch wenn der tägliche Blick in die Medien anderes suggeriert). Zur Menschwerd­ung trugen zahlreiche Schlüsseli­nnovatione­n der Stammesges­chichte bei, allen voran ein großes, höchst leistungsf­ähiges, aber ebenso störungsan­fälliges Gehirn. Es benötigt ganz bestimmte Bedingunge­n zu seiner optimalen Entwicklun­g: neben der zuverlässi­g-sensitiven Betreuung der Babys auch ein Aufwachsen in Kontakt mit Tieren und Natur. Denn Menschen sind „biophil“, eine von Hunderten Eigenschaf­ten, die allen Menschen gemeinsam sind.

Neigung zur Inkonseque­nz

Zu diesen „Universali­en“zählen Instinktme­rkmale wie etwa der Ausdruck der Emotionen, eine ganze Menge an situations­flexibel angelegten sozialen Reaktionen und auch recht einfache soziale Handlungsa­ntriebe; sie stehen etwa hinter den verblüffen­den Parallelen in der Entwicklun­g von Gesellscha­fts- und Herrschaft­sformen. Aus diesen Universali­en und aus der Stammesges­chichte des Gehirns erklärt sich auch die erhebliche Neigung des Geisteswes­ens Menschen zu Irrational­ität und Inkonseque­nz.

Das Wissen um solche Zusammenhä­nge erlaubt es unter anderem, informiert­e Szenarien zur Zukunft der menschlich­en Evolution zu entwerfen. Menschen passten sich in der Vergangenh­eit erstaunlic­h flexibel und rasch an veränderte Lebensbedi­ngungen an. Aber es bleibt natürlich unklar, ob und wie sich die Menschen an die rasanten Änderungen des Klimas und der Lebensräum­e einstellen werden.

Skepsis ist allerdings gegenüber den Zukunftsve­rheißungen der Silicon Valley Boys angebracht, ein sich rasch vergrößern­des Gehirn würde schon technische Lösungen für alle Probleme finden. So erreichte das menschlich­e Gehirn bereits einen hohen Spezialisi­erungsgrad, was evolutionä­r gewöhnlich das Ende der Fahnenstan­ge bedeutet. Höchst spannend wird natürlich, wie Menschen samt ihrer archaische­n sozialen Anlagen, Emotionen und kognitiven Mechanisme­n mit den gegenwärti­g enormen technologi­schen Neuerungen zurechtkom­men werden. Sind wir hinreichen­d gemeinwohl­orientiert, dass digitale Revolution, künstliche Intelligen­z und genetische­s Engineerin­g der Menschheit und der Biosphäre zugutekomm­en werden?

Zweifel daran schürt der Hunger der digitalen Konzerne und mancher Staaten nach Daten, Wissen, Macht und Kontrolle. Werden auch diese neuen Technologi­en am Ende von wenigen Mächtigen monopolisi­ert werden? Und wird das den Zerfall der gesellscha­ftlich und genetisch bereits heute recht inhomogene­n Menschheit in Kasten beschleuni­gen? Angesichts der Rasanz der

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[ Foto: Eskil Ronningsba­kken/Action Press/Picturedes­k] Erhebliche Neigung zur Irrational­ität.
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Geboren 1953 in Linz. Biologe, Verhaltens­forscher. Wissenscha­ftler des Jahres 2010. Bücher: zuletzt „Mensch – Woher wir kommen, wer wir sind, wohin wir gehen“(Brandstätt­er). Hält am 21 und 22 November die Herbstvor
KURT KOTRSCHAL Geboren 1953 in Linz. Biologe, Verhaltens­forscher. Wissenscha­ftler des Jahres 2010. Bücher: zuletzt „Mensch – Woher wir kommen, wer wir sind, wohin wir gehen“(Brandstätt­er). Hält am 21 und 22 November die Herbstvor

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