Mit Witz und ohne Furcht
Vor 200 Jahren geboren: George Eliot. Die englische Schriftstellerin scherte sich wenig um Konventionen. In Ehrfurcht vor ihrem Intellekt lauschten zeitgenössische Philosophen und Künstler oft andächtig ihrem Klavierspiel. Der Roman „Middlemarch“gilt bis
Sie wird am 22. November 1819 in Warwickshire im selben Jahr wie Königin Victoria geboren. Die Königin setzt die Regeln, George Eliot bricht sie. Dennoch war Victoria voller Bewunderung für ihre Kunst. Als 1871 „Middlemarch“erscheint, wenige Jahre, nachdem William M. Thackeray (1863) und Charles Dickens (1870) gestorben sind, ist George Eliot, die eigentlich Mary Ann Evans heißt, die berühmteste englische Romanschriftstellerin. Damals wie heute gilt „Middlemarch“als herausragendes Meisterwerk. 2015 wählen namhafte internationale Literaturkritiker ihn zum bedeutendsten britischen Roman überhaupt.
In „Middlemarch“verwebt George Eliot geschickt die Auswirkungen der großen Reformen wie die Emanzipation der Katholiken 1829, die Wahlrechtsreform um 1832, die Industrialisierung mit den ersten Eisenbahnen und Ereignisse wie den Ausbruch der Cholera oder den Tod George IV mit dem Schicksal ihrer davon betroffenen Protagonisten. Mit Witz und Ironie beschreibt sie Klassendünkel, Intoleranz und Selbstzufriedenheit einer Gesellschaft, die von Männern dominiert wird und in der auch sehr intelligente Frauen wenig Spielraum haben, sich zu verwirklichen. Die junge Heldin Dorothea Brooke, die den Hunger nach Erkenntnis und den Scharfsinn mit ihrer Schöpferin gemeinsam hat, heiratet den um 30 Jahre älteren Gelehrten Casaubon in der Hoffnung, an seinem Wissen teilhaben zu können. Ihre Illusionen über die Ehe teilt sie mit dem jungen Arzt Lydgate, dessen schöne Frau Rosamond sein ganzes Geld für Schmuck und Kleider ausgibt. Die Idealisten Lydgate und Dorothea scheitern an ihren hohen Erwartungen und reifen erst durch leidvolle Erfahrungen. Beim Titel „Middlemarch“wird Eliot vom berühmten Zitat aus der „Divina Comedia“inspiriert: „Nel mezzo del cammin di nostra vita.“Bei Dante heißt es: „Auf halbem Weg des Menschenlebens fand / ich mich in einen finstern Wald verschlagen, / weil ich vom rechten Weg mich abgewandt.“So geht es Eliots Protagonisten, und in den Augen der viktorianischen Gesellschaft ist auch sie vom rechten Weg abgekommen, lebt sie doch seit 1854 in wilder Ehe mit dem verheirateten Goethe-Biografen und Journalisten George Henry Lewes.
Eliots Vater, der das Gut Arbory Hall verwaltet und dessen umfangreiche Bibliothek sie später benutzen darf, legt Wert auf eine gute Bildung auch für seine Tochter. Bereits mit fünf Jahren schickt er sie nach Nuneaton und nach Coventry ins Internat, wo sie durch eine evangelikale Lehrerin streng auf Verzicht getrimmt wird.
Bruch mit der anglikanischen Kirche
Unersättlich jedoch ist ihr Wissensdurst. Neben dem Lehrplan liest sie Shakespeare, Byron und Milton. In den Ferien darf sie ihren Vater auf die Güter begleiten und lernt den Landadel und die Arbeiter kennen – Eindrücke, die sie später in ihren Romanen verarbeitet. Nach dem Tod ihrer Mutter muss sie mit 16 die Schule abbrechen und den Haushalt führen. Als Trost bekommt sie Hauslehrer für Griechisch, Latein, Deutsch, Französisch. Durch die Heirat ihres Bruders wird sie aus ihrem Elternhaus vertrieben. Eine einschneidende Wende bringt die Übersiedlung nach Folsehill, einem Vorort von Coventry, wo sie den Freidenkerkreis um Charles und Cara Bray kennenlernt. In deren Haus trifft sie führende Intellektuelle wie Robert Owen, Herbert Spencer oder Ralph Waldo Emerson. Deren Einfluss führt sie zum Bruch mit der anglikanischen Kirche – ein Schlag für ihren Vater.
1844 übersetzt sie „Das Leben Jesu“von David Friedrich Strauß, der das Alte Testament als Geschichte des jüdischen Volkes und die Evangelien als Mythen interpretiert. Das erschüttert endgültig ihren Glauben. Der Vater, den sie bis zu seinem Tod jahrelang pflegt, bleibt unversöhnlich. Als er 1849 stirbt, erbt sein Sohn das Familiengut GriffHouse. Seine Tochter bekommt nicht einmal die Bücher, aus denen sie ihm vorgelesen hat. Ihr bleiben 2000 Pfund, die ihr Bruder Isaac verwaltet. Von den 120 Pfund Zinsen im Jahr kann sie kaum leben. Nun hat Eliot kein Zuhause mehr. Sie zieht für ein paar Monate nach Genf, liest Kant, Hegel, Goethe, Schiller und Heine, der in ihren Augen als einziger Leichtigkeit, Ironie und Humor in die deutsche Sprache gebracht hat. 1888 wird Nietzsche in „Ecce Homo“ähnlich über Heine urteilen.
In London trifft sie auf den Verleger John Chapman der mit zwei Frauen lebt de Zeitschrift für Philosophie, die sie anonym herausgibt. John Stuart Mill fordert darin bereits 1851 das Wahlrecht für Frauen. 1854 ist für Eliot ein entscheidendes Jahr. Sie lernt ihren Lebensmenschen George Henry Lewes kennen. Er ermuntert sie zum Schreiben, auch, weil sie sich kaum die Butter aufs Brot leisten können.
Tatsächlich wird Eliot mit ihren Romanen bald so viel verdienen, dass sie auch den Unterhalt für die Frau ihres Geliebten und dessen Kinder finanzieren kann. 1873 bekommt sie für „Middlemarch“5000 Pfund, die John Cross, ein junger Finanzmakler, den sie zwei Jahre nach Lewes’ und acht Monate vor ihrem eigenen Tod heiraten wird, in Eisenbahnaktien anlegt. Gleich ihr erster Roman „Adam Bede“, der 1859 unter ihrem Pseudonym George Eliot (sie wählt es unter anderem, weil sie bei einem Frauennamen ein verzerrtes Urteil fürchtet) erscheint und von Wordsworths lyrischen Balladen inspiriert ist, wird ein Bestseller. Weil jemand anderer hartnäckig die Autorschaft behauptet, ist sie gezwungen, ihre Identität bekannt zu geben.
Die zweite einschneidende geistige Veränderung in ihrem Leben ist ihre 1854 veröffentlichte Übersetzung von Ludwig Feuerbachs Schrift: „Das Wesen des Christentums“. Darin wird Gott als Projektion des Menschen dargestellt. Von den Linkshegelianern beeinflusst, konvertiert Eliot nicht wie Feuerbach zur Marxistin, sondern lässt sich von seiner Philosophie der „liebenden Mitmenschlichkeit“anregen, die auch die moralische Grundlage ihrer Romane bildet. Wie nach ihr Tolstoi fordert sie, dass Literatur nicht nur unterhält, sondern zur Bildung und Erziehung des Lesers und zur Ausweitung seiner Sympathien beiträgt. Einen rein ästhetischen Zugang, wie ihn später Oscar Wilde vertritt, lehnt sie ab.
Sie wirft einen liebenden und verständnisvollen Blick auf alle Kreaturen, die um ihre Existenz ringen und unserer Sympathie bedürfen. So gibt die Heldin in „Middlemarch“, Dorothea Brooke, dem in allen seinen Bestrebungen gescheiterten Arzt Lydgate und seiner frustrierten Frau Rosamond wieder Hoffnung, indem sie an sie glaubt und in ihnen den Willen zum Guten erkennt. Denn „wenn die Kunst nicht das Mitgefühl erweitert, tut sie moralisch nichts“, ist Eliot überzeugt. Wie Mozart verspottet sie nie ihre Figuren, sondern fordert uns indirekt auf, auch Sympathien für diejenigen zu empfinden, die uns wie Casaubon weniger sympathisch sind, indem sie die Sprache seines Innenlebens zeigt. In der berühmten Passage im 29. Kapitel wechselt sie radikal die Perspektive: „But why always Dorothea? Was her point of view the only possible one with regard to this marriage?“
Van Gogh, der drei Jahre bis 1876 in London lebt, versteht genau, worum es George Eliot geht. So wie uns der soziale Realismus seine Kartoffel essenden Bauern oder die alten Schuhe zeigt, transformiert Eliots liebender Blick die Wirklichkeit zur moralischen Größe. In seinem Bild „Schlafzimmer in Arles“bezieht er sich auf Holts einfaches Zimmer in Eliots Roman „Felix Holt, der Radikale“. Holt, das ist der Held der Arbeiterklasse, der zur Bildung der Arbeiter, die in den Kohlegruben schuften, beitragen will, und der das korrupte Wahlsystem anprangert. Eliot beschreibt die Kehrseite der Industrialisierung, die arbeitslosen Weber, die Landflucht, Frauen- und Kinderarbeit. Sie liest Disraeli und Carlyle, die die Zerstörung der geistigen Natur des Menschen an der Maschine sahen, die Marx als Entfremdung geißelt.
Auch Maggies Vater, Tulliver, in der „Mühle am Floss“, der in der bäuerlichen Welt gefangen ist, fühlt sich durch die Industrialisierung entwurzelt, weil sie sich sprachlich nicht mehr fassen lässt: „. . . es hat sich alles so verdreht und in so unvernünftige Wörter verwickelt, dass man sich gar nicht mehr auskennt und ans Falsche gerät.“Innnerhalb von drei Monaten schreibt sie „Silas Marner“, den Roman, den Henry James als ihren besten preisen wird. Auch hier steht, wie bei „Adam Bede“, die Hinwendung zum Mitmenschen im Mittelpunkt.
In ihrem letztem Roman, „Daniel Deronda“, modelliert Eliot den jüdischen Klesmer nach Anton Rubinstein, den sie 1854 in Weimar im Salon von Franz Liszt trifft. 20 Jahre vor Theodor Herzls Judenstaat träumt ihre Figur Mordecai von einer Heimat in Palästina.
Vater-Tochter-Beziehungen
Beeinflusst von Mill, Feuerbach, Comte und Spencer zeigt Eliot, wie der Einzelne von Faktoren geprägt ist, die er nicht überschauen kann. Die Auswirkungen einer lieblosen Kindheit auf die Liebesfähigkeit der Erwachsenen werden in „Adam Bede“an allen Figuren demonstriert. Die Kindsmörderin Hetty ist unfähig, Mitgefühl zu zeigen, weil sie es als Waise, die ohne Liebe aufgewachsen ist, selbst nie erfahren hat. Ein sehr moderner Gedanke. Alle Romane behandeln Vater-Tochter-Beziehungen. In „Adam Bede“trägt der Titelheld die Lebensdaten ihres Vaters. Und in „Middlemarch“steht der gütige Verwalter Caleb Garth für einen Vater, wie sie sich ihn wünscht. Jedoch macht sie sich keine Illusionen, wenn sie in „Adam Bede“schreibt: „Die Familie birgt oft tiefe Traurigkeit.“
Wegen ihrer wilden Ehe mit Lewes verstößt auch ihr geliebter Bruder sie und verbietet ihr jeglichen Kontakt mit der Familie. In ihrem zweiten autobiografisch gefärbten Roman, „Die Mühle am Floss“, wird die kluge Maggie Tulliver von ihrem Vater beschützt und mit ihrem Bruder Tom wenigstens im Tode vereint. Die Ehe ist das patriarchalische Ordnungsprinzip des aufsteigenden Bürgertums, auf das auch Eliots Verleger John Blackwood achtet. Als sie an ihrem ersten Roman, „Adam Bede“, schreibt, droht er ihr, die Zusammenarbeit aufzukündigen, wenn nicht am Ende die Hochzeitsglocken zwischen Adam und Dinah läuten.
Als Schriftstellerin ist Eliot von Anfang an erfolgreich, wegen ihrer wilden Ehe wird sie verachtet. Eingeladen wird nur Lewes. Sie lebt zurückgezogen. Erst Jahre später sind ihre Sonntagseinladungen, zu denen Dickens, James, Thackeray, Anthony Trollope, Franz Liszt und viele andere kommen, heiß begehrt. In Ehrfurcht vor ihrem Intellekt und in Bewunderung ihrer Romane hocken sie zu ihren Füßen, während sie ihnen Bach, Beethoven und Schubert am Klavier vorspielt. Spencer nennt sie die „größte Intellektuelle, die je gelebt hat“. Wegen ihrer meisterhaften Dialoge nennt Harold Bloom sie den „weiblichen Shakespeare“.