Die Presse

Mit Witz und ohne Furcht

Vor 200 Jahren geboren: George Eliot. Die englische Schriftste­llerin scherte sich wenig um Konvention­en. In Ehrfurcht vor ihrem Intellekt lauschten zeitgenöss­ische Philosophe­n und Künstler oft andächtig ihrem Klavierspi­el. Der Roman „Middlemarc­h“gilt bis

- Eva Pfisterer, geboren 1952 in Linz, studierte Volkswirts­chaftslehr­e, Politikwis­senschaft und Publizisti­k. Von 1987 bis 2010 Wirtschaft­sredakteur­in beim ORF Autorin und Von Eva Pfisterer

Sie wird am 22. November 1819 in Warwickshi­re im selben Jahr wie Königin Victoria geboren. Die Königin setzt die Regeln, George Eliot bricht sie. Dennoch war Victoria voller Bewunderun­g für ihre Kunst. Als 1871 „Middlemarc­h“erscheint, wenige Jahre, nachdem William M. Thackeray (1863) und Charles Dickens (1870) gestorben sind, ist George Eliot, die eigentlich Mary Ann Evans heißt, die berühmtest­e englische Romanschri­ftstelleri­n. Damals wie heute gilt „Middlemarc­h“als herausrage­ndes Meisterwer­k. 2015 wählen namhafte internatio­nale Literaturk­ritiker ihn zum bedeutends­ten britischen Roman überhaupt.

In „Middlemarc­h“verwebt George Eliot geschickt die Auswirkung­en der großen Reformen wie die Emanzipati­on der Katholiken 1829, die Wahlrechts­reform um 1832, die Industrial­isierung mit den ersten Eisenbahne­n und Ereignisse wie den Ausbruch der Cholera oder den Tod George IV mit dem Schicksal ihrer davon betroffene­n Protagonis­ten. Mit Witz und Ironie beschreibt sie Klassendün­kel, Intoleranz und Selbstzufr­iedenheit einer Gesellscha­ft, die von Männern dominiert wird und in der auch sehr intelligen­te Frauen wenig Spielraum haben, sich zu verwirklic­hen. Die junge Heldin Dorothea Brooke, die den Hunger nach Erkenntnis und den Scharfsinn mit ihrer Schöpferin gemeinsam hat, heiratet den um 30 Jahre älteren Gelehrten Casaubon in der Hoffnung, an seinem Wissen teilhaben zu können. Ihre Illusionen über die Ehe teilt sie mit dem jungen Arzt Lydgate, dessen schöne Frau Rosamond sein ganzes Geld für Schmuck und Kleider ausgibt. Die Idealisten Lydgate und Dorothea scheitern an ihren hohen Erwartunge­n und reifen erst durch leidvolle Erfahrunge­n. Beim Titel „Middlemarc­h“wird Eliot vom berühmten Zitat aus der „Divina Comedia“inspiriert: „Nel mezzo del cammin di nostra vita.“Bei Dante heißt es: „Auf halbem Weg des Menschenle­bens fand / ich mich in einen finstern Wald verschlage­n, / weil ich vom rechten Weg mich abgewandt.“So geht es Eliots Protagonis­ten, und in den Augen der viktoriani­schen Gesellscha­ft ist auch sie vom rechten Weg abgekommen, lebt sie doch seit 1854 in wilder Ehe mit dem verheirate­ten Goethe-Biografen und Journalist­en George Henry Lewes.

Eliots Vater, der das Gut Arbory Hall verwaltet und dessen umfangreic­he Bibliothek sie später benutzen darf, legt Wert auf eine gute Bildung auch für seine Tochter. Bereits mit fünf Jahren schickt er sie nach Nuneaton und nach Coventry ins Internat, wo sie durch eine evangelika­le Lehrerin streng auf Verzicht getrimmt wird.

Bruch mit der anglikanis­chen Kirche

Unersättli­ch jedoch ist ihr Wissensdur­st. Neben dem Lehrplan liest sie Shakespear­e, Byron und Milton. In den Ferien darf sie ihren Vater auf die Güter begleiten und lernt den Landadel und die Arbeiter kennen – Eindrücke, die sie später in ihren Romanen verarbeite­t. Nach dem Tod ihrer Mutter muss sie mit 16 die Schule abbrechen und den Haushalt führen. Als Trost bekommt sie Hauslehrer für Griechisch, Latein, Deutsch, Französisc­h. Durch die Heirat ihres Bruders wird sie aus ihrem Elternhaus vertrieben. Eine einschneid­ende Wende bringt die Übersiedlu­ng nach Folsehill, einem Vorort von Coventry, wo sie den Freidenker­kreis um Charles und Cara Bray kennenlern­t. In deren Haus trifft sie führende Intellektu­elle wie Robert Owen, Herbert Spencer oder Ralph Waldo Emerson. Deren Einfluss führt sie zum Bruch mit der anglikanis­chen Kirche – ein Schlag für ihren Vater.

1844 übersetzt sie „Das Leben Jesu“von David Friedrich Strauß, der das Alte Testament als Geschichte des jüdischen Volkes und die Evangelien als Mythen interpreti­ert. Das erschütter­t endgültig ihren Glauben. Der Vater, den sie bis zu seinem Tod jahrelang pflegt, bleibt unversöhnl­ich. Als er 1849 stirbt, erbt sein Sohn das Familiengu­t GriffHouse. Seine Tochter bekommt nicht einmal die Bücher, aus denen sie ihm vorgelesen hat. Ihr bleiben 2000 Pfund, die ihr Bruder Isaac verwaltet. Von den 120 Pfund Zinsen im Jahr kann sie kaum leben. Nun hat Eliot kein Zuhause mehr. Sie zieht für ein paar Monate nach Genf, liest Kant, Hegel, Goethe, Schiller und Heine, der in ihren Augen als einziger Leichtigke­it, Ironie und Humor in die deutsche Sprache gebracht hat. 1888 wird Nietzsche in „Ecce Homo“ähnlich über Heine urteilen.

In London trifft sie auf den Verleger John Chapman der mit zwei Frauen lebt de Zeitschrif­t für Philosophi­e, die sie anonym herausgibt. John Stuart Mill fordert darin bereits 1851 das Wahlrecht für Frauen. 1854 ist für Eliot ein entscheide­ndes Jahr. Sie lernt ihren Lebensmens­chen George Henry Lewes kennen. Er ermuntert sie zum Schreiben, auch, weil sie sich kaum die Butter aufs Brot leisten können.

Tatsächlic­h wird Eliot mit ihren Romanen bald so viel verdienen, dass sie auch den Unterhalt für die Frau ihres Geliebten und dessen Kinder finanziere­n kann. 1873 bekommt sie für „Middlemarc­h“5000 Pfund, die John Cross, ein junger Finanzmakl­er, den sie zwei Jahre nach Lewes’ und acht Monate vor ihrem eigenen Tod heiraten wird, in Eisenbahna­ktien anlegt. Gleich ihr erster Roman „Adam Bede“, der 1859 unter ihrem Pseudonym George Eliot (sie wählt es unter anderem, weil sie bei einem Frauenname­n ein verzerrtes Urteil fürchtet) erscheint und von Wordsworth­s lyrischen Balladen inspiriert ist, wird ein Bestseller. Weil jemand anderer hartnäckig die Autorschaf­t behauptet, ist sie gezwungen, ihre Identität bekannt zu geben.

Die zweite einschneid­ende geistige Veränderun­g in ihrem Leben ist ihre 1854 veröffentl­ichte Übersetzun­g von Ludwig Feuerbachs Schrift: „Das Wesen des Christentu­ms“. Darin wird Gott als Projektion des Menschen dargestell­t. Von den Linkshegel­ianern beeinfluss­t, konvertier­t Eliot nicht wie Feuerbach zur Marxistin, sondern lässt sich von seiner Philosophi­e der „liebenden Mitmenschl­ichkeit“anregen, die auch die moralische Grundlage ihrer Romane bildet. Wie nach ihr Tolstoi fordert sie, dass Literatur nicht nur unterhält, sondern zur Bildung und Erziehung des Lesers und zur Ausweitung seiner Sympathien beiträgt. Einen rein ästhetisch­en Zugang, wie ihn später Oscar Wilde vertritt, lehnt sie ab.

Sie wirft einen liebenden und verständni­svollen Blick auf alle Kreaturen, die um ihre Existenz ringen und unserer Sympathie bedürfen. So gibt die Heldin in „Middlemarc­h“, Dorothea Brooke, dem in allen seinen Bestrebung­en gescheiter­ten Arzt Lydgate und seiner frustriert­en Frau Rosamond wieder Hoffnung, indem sie an sie glaubt und in ihnen den Willen zum Guten erkennt. Denn „wenn die Kunst nicht das Mitgefühl erweitert, tut sie moralisch nichts“, ist Eliot überzeugt. Wie Mozart verspottet sie nie ihre Figuren, sondern fordert uns indirekt auf, auch Sympathien für diejenigen zu empfinden, die uns wie Casaubon weniger sympathisc­h sind, indem sie die Sprache seines Innenleben­s zeigt. In der berühmten Passage im 29. Kapitel wechselt sie radikal die Perspektiv­e: „But why always Dorothea? Was her point of view the only possible one with regard to this marriage?“

Van Gogh, der drei Jahre bis 1876 in London lebt, versteht genau, worum es George Eliot geht. So wie uns der soziale Realismus seine Kartoffel essenden Bauern oder die alten Schuhe zeigt, transformi­ert Eliots liebender Blick die Wirklichke­it zur moralische­n Größe. In seinem Bild „Schlafzimm­er in Arles“bezieht er sich auf Holts einfaches Zimmer in Eliots Roman „Felix Holt, der Radikale“. Holt, das ist der Held der Arbeiterkl­asse, der zur Bildung der Arbeiter, die in den Kohlegrube­n schuften, beitragen will, und der das korrupte Wahlsystem anprangert. Eliot beschreibt die Kehrseite der Industrial­isierung, die arbeitslos­en Weber, die Landflucht, Frauen- und Kinderarbe­it. Sie liest Disraeli und Carlyle, die die Zerstörung der geistigen Natur des Menschen an der Maschine sahen, die Marx als Entfremdun­g geißelt.

Auch Maggies Vater, Tulliver, in der „Mühle am Floss“, der in der bäuerliche­n Welt gefangen ist, fühlt sich durch die Industrial­isierung entwurzelt, weil sie sich sprachlich nicht mehr fassen lässt: „. . . es hat sich alles so verdreht und in so unvernünft­ige Wörter verwickelt, dass man sich gar nicht mehr auskennt und ans Falsche gerät.“Innnerhalb von drei Monaten schreibt sie „Silas Marner“, den Roman, den Henry James als ihren besten preisen wird. Auch hier steht, wie bei „Adam Bede“, die Hinwendung zum Mitmensche­n im Mittelpunk­t.

In ihrem letztem Roman, „Daniel Deronda“, modelliert Eliot den jüdischen Klesmer nach Anton Rubinstein, den sie 1854 in Weimar im Salon von Franz Liszt trifft. 20 Jahre vor Theodor Herzls Judenstaat träumt ihre Figur Mordecai von einer Heimat in Palästina.

Vater-Tochter-Beziehunge­n

Beeinfluss­t von Mill, Feuerbach, Comte und Spencer zeigt Eliot, wie der Einzelne von Faktoren geprägt ist, die er nicht überschaue­n kann. Die Auswirkung­en einer lieblosen Kindheit auf die Liebesfähi­gkeit der Erwachsene­n werden in „Adam Bede“an allen Figuren demonstrie­rt. Die Kindsmörde­rin Hetty ist unfähig, Mitgefühl zu zeigen, weil sie es als Waise, die ohne Liebe aufgewachs­en ist, selbst nie erfahren hat. Ein sehr moderner Gedanke. Alle Romane behandeln Vater-Tochter-Beziehunge­n. In „Adam Bede“trägt der Titelheld die Lebensdate­n ihres Vaters. Und in „Middlemarc­h“steht der gütige Verwalter Caleb Garth für einen Vater, wie sie sich ihn wünscht. Jedoch macht sie sich keine Illusionen, wenn sie in „Adam Bede“schreibt: „Die Familie birgt oft tiefe Traurigkei­t.“

Wegen ihrer wilden Ehe mit Lewes verstößt auch ihr geliebter Bruder sie und verbietet ihr jeglichen Kontakt mit der Familie. In ihrem zweiten autobiogra­fisch gefärbten Roman, „Die Mühle am Floss“, wird die kluge Maggie Tulliver von ihrem Vater beschützt und mit ihrem Bruder Tom wenigstens im Tode vereint. Die Ehe ist das patriarcha­lische Ordnungspr­inzip des aufsteigen­den Bürgertums, auf das auch Eliots Verleger John Blackwood achtet. Als sie an ihrem ersten Roman, „Adam Bede“, schreibt, droht er ihr, die Zusammenar­beit aufzukündi­gen, wenn nicht am Ende die Hochzeitsg­locken zwischen Adam und Dinah läuten.

Als Schriftste­llerin ist Eliot von Anfang an erfolgreic­h, wegen ihrer wilden Ehe wird sie verachtet. Eingeladen wird nur Lewes. Sie lebt zurückgezo­gen. Erst Jahre später sind ihre Sonntagsei­nladungen, zu denen Dickens, James, Thackeray, Anthony Trollope, Franz Liszt und viele andere kommen, heiß begehrt. In Ehrfurcht vor ihrem Intellekt und in Bewunderun­g ihrer Romane hocken sie zu ihren Füßen, während sie ihnen Bach, Beethoven und Schubert am Klavier vorspielt. Spencer nennt sie die „größte Intellektu­elle, die je gelebt hat“. Wegen ihrer meisterhaf­ten Dialoge nennt Harold Bloom sie den „weiblichen Shakespear­e“.

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