Die Haftung der Sippe
Unbeirrt stellt Martin Pollack eine Frage, vor der in Österreich meist gern und beharrlich ausgewichen wird: Was hat meine Familie im Dritten Reich getan? Er selber hat sich in seinen Büchern nun mehrfach schon der Antwort gestellt, hat die tiefe NS-Verstrickung seiner Sippschaft aus Amstetten minutiös dargelegt. In dieser einst in der habsburgischen Untersteiermark beheimateten Großfamilie namens Bast gehörte die stramme deutschnationale Gesinnung gleichsam zum vorweggenommenen „Ariernachweis“: Vater, Onkel, Großvater, Großonkel – alles Nazis.
Indes, die Frauen der Bast-Familie blieben, bis auf die Amstettner Großmutter, gegen den NS-Gedankenunrat offenbar immun. Der unscheinbarsten, zugleich standfestesten von ihnen hat der Großneffe Martin Pollack hier ein Denkmal gesetzt: der Tante Pauline Bast, die im untersteirischen Ort Tüffer das väterliche Haus bewohnte, den slowenischen Dorforganisten Franc Drolc heiratete und 1945 ein unschuldiges Opfer der blutigen nationalistischen Feindseligkeiten in ihrer Heimat wurde.
Der Zufall eines antiquarischen Fundes hat Pollack auf ihre Spur gebracht. In seiner Familie wurde das Schicksal der fernen Verwandten im nunmehr jugoslawischen Tüffer, das auf slowenisch Lasko heißt, nie erwähnt. Ein Opfer passte nicht ins treudeutsche Narrativ der Sippe. Bei seiner Spurensuche geht Pollack weit zurück in der eigenen Familienchronik, bis zum Urgroßvater Paul Bast, der nach der Mitte des 19. Jahrhunderts aus dem deutschen Rheinland in die habsburgische Untersteiermark zog, eine Gerberei aufbaute und ein stattliches Haus in Tüffer erwarb.
Der Marktflecken Tüffer/Lasko gehörte damals zum südlichen Teil des österreichischen Kronlands Herzogtum Steiermark, der mehrheitlich slowenisch bewohnt war. Im nach der Jahrhundertwende ausgebrochenen Nationalitätenkonflikt zwischen Deutschen und Slowenen schlugen sich die Basts als „Grenzlanddeutsche“mit Vehemenz auf die Seite der privilegierten deutschen Minderheit.
Diese Privilegien gingen nach Kriegsende 1918 im neu formierten SHS-Staat, dem Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen, verloren. Die einstigen Herren wurden unterdrückt, die Minderheitenrechte stark eingeschränkt. Die Männerriege im Hause Bast überantwortete sich einem rabiaten Nationalismus, der sich auch an den Gedankenausscheidungen des für antisemitischen Umtriebe berüchtigten Georg Ritter von Schönerer zu laben vermochte.
Der hatte gedichtet: „Die Religion ist einerlei, im Blute liegt die Schweinerei.“Im
Folgenden tauchen wir als Leser von Pollacks eng geführter Historie in eine tief provinzielle Welt aus Familienbande, Jagdtrieb und deutschnationaler Inbrunst ein, die sich in den männerbündlerischen Ritualen der schlagenden Verbindungen, bei deren Trinkgelagen und Mensuren auf den Fechtböden kräftig aufheizte.
Die meisten der Studenten aus dem untersteirischen Tüffer, das seit dem Kriegsende 1918 ausschließlich Lasko heißen durfte, traten damals in Graz der „Germania“bei, einer Brutstätte deutschnationaler Blutbeschwörung und rassistischer Fremdenverachtung. In der „Germania“gehörte ein radikaler Antisemitismus zum Cantus firmus dieser bierseligen Bannerträger einer schwarz-rot-goldenen Gesinnung mitten im gemischtsprachigen Österreich. Im Revers steckte, auch heute zuweilen noch sichtbar, die blaue Kornblume, das Emblem der
Die Frau ohne Grab
Qdeutschnationalen Gesinnung, das in den 1930er-Jahren in Österreich das Zeichen der illegalen Nazis war.
Als zu Ostern 1941 die Wehrmacht in der Untersteiermark einmarschierte, setzte sogleich eine groß angelegte Säuberung und „Rückvolkung“der Deutschen ein. Die slowenische Mehrheitsbevölkerung wurde drangsaliert und mit Schikanen unterjocht. Die Antwort auf die deutsche Zwangsherrschaft waren die vielen Anschläge und Sabotageakte der Partisanenbrigaden, die in der deutschsprachigen Presse „landfremdes Mordgesindel“genannt wurden. Unbarmherzig rächten sich die Partisanen 1945 für den erlittenen Terror: Nun waren sie die Verfolger, und wer ein Faschist war, bestimmten sie. So geriet die unschuldige Pauline in ihre Fänge. Der Schrecken der NSKonzentrationslager wurde von den kommunistischen Untergrundkämpfern mit Konzentrationslagern quittiert, und sie nannten sie auch so: Konzentrationslager.
In ein solches Lager, im Schloss Hrastovec in den Windischen Büheln nahe Maribor, wurde im Sommer 1945 Pauline Drolc verschleppt. Von ihrem Elternhaus Bast aus, das sie in den letzten Jahren kaum mehr verlassen hatte, wurde die Siebzigjährige, wie Augenzeugen berichteten, von einem jungen Partisanen mit geschultertem Gewehr abgeführt. Wenige Wochen später, am 24. August, starb sie an den unmenschlichen Zuständen, die in dem Lager vorherrschten. Ihr Grab wurde nie gefunden.
Pollack ist ein trittsicher auf gehölzreicher Pirsch voranschreitender „Wahrheitsjäger“. Bei der mageren Quellenlage, was die Großtante Pauline betrifft, ist es verständlich, dass der detailgenaue Dokumentarist weit ausholt und zuweilen auch zu Wiederholungen greift. Sein Buch protokolliert die Niedertracht, die an der arg- und schuldlosen Frau begangen wurde, ebenso wie den nationalistischen Furor ihrer Brüder, der maßgeblich zur Vergiftung des Zusammenlebens von deutscher Minder- und slowenischer Mehrheit beigetragen hat.
Martin Pollack ist überzeugt, „dass wir heute alle Geschichten erzählen können, vielleicht sogar müssen, ohne Zorn und Eifer, ohne etwas zu verschweigen oder auszublenden“. Mit seinen beherzten familiären Erkundungsgängen hat er das Gedächtnis des Landes nachhaltig bereichert.
Martin Pollack stellt sein Buch am
19. November um 19 Uhr im Literaturhaus Mattersburg, Brunnenplatz 4, Rathaus, vor.