Ehrfurchtslos beim Exilanten
SWer traf wen? Wer ist Saint-Preux? Welcher Abschnitt der reformpädagogischen Schrift erregte Anstoß? Das bekannteste Werk des Schotten?
Qelbstbewusstsein kann man nicht kaufen. Einst schrieb ein junger schottischer Edelmann an einen europaweit berühmten Philosophen, der nahe Neuchatelˆ hauste, um seinen Besuch anzukünden. Solcherart stellte er sich vor: „Sehen Sie bitte, Sir, in mir einen Mann von einzigartigem Verdienst. Ihre Schriften, Sir, haben mein Herz dahinschmelzen lassen, meine Seele erhoben, meine Fantasie beflügelt. Glauben Sie mir, Sie werden froh darüber sein, mich kennengelernt zu haben. Verzeihen Sie, Sir, mich überwältigt die Rührung. O geliebter Saint-Preux!“
Mit Empfehlungsschreiben ausgestattet, war er sich sicher, sie gar nicht zu benötigen. Der Philosoph mochte sein Urteil über ihn fällen; er, der Erforscher der menschlichen Natur, könnte von kaum jemandem getäuscht werden.
Ein Exilant: Der Philosoph war nach der Veröffentlichung einer reformpädagogischen Schrift 1762 aus Paris geflohen, da das Buch wegen seiner Angriffe auf Kirche und Staat verboten und ein Haftbefehl gegen ihn erlassen worden war. Nun antwortete er, dass er zwar krank sei, Schmerzen habe und eigentlich keine Besucher empfange, doch müsse er unbedingt die Bekanntschaft des schottischen Reisenden machen – vorausgesetzt, dieser halte seinen Besuch aus Rücksicht auf des Gastgebers Gesundheitszustand kurz.
Das Wort „kurz“enttäuschte den jungen Edelmann einen Moment lang, der Ehrgeiz packte ihn aber umso mehr. Direkt nach Erhalt der Karte brach er auf, um eine Überraschung zu erleben: Der Mann, den er antraf, erinnerte ihn an Moli`eres „Eingebildeten Kranken“– keine Spur vom „wilden Philosophen“, den er nach Lektüre von dessen Schriften erwartet hatte. Der Hypochonder war nur mit sich selbst beschäftigt und wies den frechen Schotten ab. Dieser hatte sich indes, bescheiden, wie er war, von dem 28 Jahre älteren Herrn Ratschläge, Anweisungen, Belehrungen erwartet.
Obwohl sich der eingebildete Kranke nachfolgende Besuche verbat, ertrotzte sich der Jüngere dennoch weitere Begegnungen – zum Nutzen beider, wie er meinte. Seine Abschiedsworte: „Sie sind sehr liebenswürdig zu mir gewesen, aber das habe ich auch verdient.“