Menasse: Angst vor der EU?
Es waren Nationalisten, die aus der Weltmetropole Wien eine Provinzstadt machten, wovon sich Wien erst Jahrzehnte später erholte. Fortsetzung von Seite I
guten Bildungssystem, das Ihren Kindern unabhängig von Ihrer sozialen Herkunft Chancen eröffnet; Sie haben Interesse an einem funktionierenden Sozialsystem; an einem Gesundheitssystem auf dem Stand der Wissenschaft; und Sie haben natürlich Interesse an der Sicherung eines würdigen Lebensabends ohne Altersarmut; Sie haben Interesse an einer funktionierenden Verwaltung; an funktionierender Infrastruktur und so weiter. All das ist selbstverständlich, nur finde ich das spezifisch Österreichische an diesen Interessen nicht.
Kurz: Sie haben Interessen, die jeder EU-Bürger, jede EU-Bürgerin hat. Warum glauben Sie, dass Sie diese Interessen gegen dieselben Interessen anderer verteidigen müssen?
Wenn Sie auch darauf keine Antwort haben, gehen wir einen Schritt weiter. Sie wollen also nicht, dass „Ausländer“in unser Sozialsystem und in unseren Arbeitsmarkt einwandern. Welche Ausländer meinen Sie?
Der Reihe nach.
Erstens: ungarische Maurer, die im Burgenland arbeiten, oder tschechische Feinmechaniker in Niederösterreich oder deutsche Kellner in Salzburg. Googeln Sie einmal, wie viele Unternehmen händeringend Mitarbeiter im sogenannten EU-Ausland suchen, das doch längst kein Ausland mehr sein sollte. Gäbe es genug Fachkräfte am lokalen Arbeitsmarkt, dann gäbe es doch diese Tausende von europaweiten Ausschreibungen nicht. Die Freizügigkeit ist eine große Errungenschaft der EU, sie ermöglicht Hunderttausenden Menschen, überall in der Union ihr Glück zu suchen, ohne arbeitslos zu Hause herumzusitzen und dem nationalen Sozialsystem zur Last zu fallen und ohne depressiv zu werden. Sie haben ja selbst auch diese Möglichkeit, Sie könnten zum Beispiel in Deutschland arbeiten, so wie es 180.000 Österreicher derzeit tun.
Wenn Sie aber kein Interesse daran haben, dann ist das kein Argument gegen dieses EU-Recht. Ein Problem ist nur, dass die Verteidiger nationaler Arbeitsmärkte immer wieder neue Hürden aufbauen, um die Möglichkeiten der Freizügigkeit einzuschränken und EU-Bürgern das Leben zu erschweren. Sie kämpfen gegen die Harmonisierung des Steuerrechts, des Arbeitsrechts, der Sozialsysteme, sie produzieren „schwarze Löcher“, das sind Arbeitnehmerrechte, die im Herkunftsland erlöschen, ohne im Arbeitsland wirksam zu werden, und so weiter.
Und weil Sie das Lohndumping angesprochen haben: Bedanken Sie sich bei den Nationalisten, die Anti-Ausländer-Politik statt Gemeinschaftspolitik betreiben. Niemand würde sie daran hindern, zum Beispiel einen europäischen Mindestlohn durchzusetzen. Deren Veto dagegen finden Sie gut? Aggressionen gegen „ausländische“Arbeitskräfte finden Sie daher gerechtfertigt?
Zweitens: Asylwerber. Der Generalverdacht, unter dem sie stehen, nämlich „bloß Wirtschaftsflüchtlinge“zu sein, zeigt schon sprachlich ein Problem, das deutschsprachige Nationalisten offenbar mit ihrer deutschen Muttersprache haben. Kriegsflüchtlinge flüchten vor Krieg, Klimaflüchtlinge flüchten vor dem mörderischen Klima ihrer Heimat, etwa vor der Dürre, aber „Wirtschaftsflüchtlinge“flüchten doch nicht vor der Wirtschaft.
Gibt es einen noch dümmeren Begriff? Ja: „Einwanderer ins Sozialnetz“. Wer vor Krieg, Verfolgung, Folter und Vernichtung flüchtet, sucht Sicherheit für Leib und Leben, aber versteht unter Sicherheit nicht unbedingt exakt das, was ein österreichischer Sozialhilfeempfänger darunter versteht. Wenn er arbeiten darf, zahlt er mehr ins System ein, als er bezieht. Diese Rechnung ist wahr – und doch zugleich unmenschlich. Denn die Rettung von Menschenleben darf nicht erst dann selbstverständlich sein, wenn sie im Sozialsystem profitabel ist.
Hier kommen wir wieder zu dem typischen europäischen Grundproblem, zum ewigen Widerspruch zwischen nachnationaler Entwicklung und entsprechendem Rechtszustand und andererseits dem Nationalismus und seiner unproduktiven Blockadepolitik. Seit rund eineinhalb Jahrzehnten versucht die Europäische Kommission, Richtlinien für eine europäische Asyl- und Migrationspolitik auszuarbeiten und durchzusetzen. All diese Papiere, genannt „Märtyrer-Papiere“, weil sie im Rat sofort zerrissen werden, sind am Widerstand einiger Nationalstaaten zerschellt.
Die Nationalisten haben Gemeinschaftsrecht in dieser wichtigen Frage verhindert, keine Regeln definiert, sich nur gegenüber ihren nationalen Wählern als Bollwerk gegen „Ausländer mit fremder Kultur“stilisiert und insgeheim Daumen gedrückt, dass nicht viel mehr Ausländer sichtbar werden, als für xenophobe Propaganda notwendig sind – und dann waren die Flüchtlinge in Massen da, und weil es keine Regeln gab, machte jeder, was er wollte, und dieser anarchische, gesetzlose Zustand, die daraus entstandene Hilflosigkeit, die deswegen weiter geschürten Aggressionen und Ängste waren die ganze „Krise“. Daher einmal mehr: Wo immer die Nationalisten die Gemeinschaft blockieren, haben wir eine Krise.
Drittens: Migration. Österreich war immer ein Einwanderungsland, zumindest Wien war in Zeiten des k. u. k. Österreich der Magnet für viele Menschen aus den Kronländern, die um 1900 die österreichische Hauptstadt zur Hauptstadt der Welt machten. Die Nationalisten haben dann aus dieser Weltmetropole eine deutsche Provinzstadt gemacht, wovon sich Wien erst gegen Ende der Siebzigerjahre langsam erholte. Aber bereits die dritte oder vierte Generation etwa tschechischer Einwanderer bildete in den Achtzigern die halbe Regierung und war zahlreich im österreichischen Parlament vertreten: Vranitzky, Lacina, Cap und wie sie alle hießen, oder Hojac, auch wenn er sich Westenthaler nannte. Und bei einem Staatsbesuch in der Tschechischen Republik traf Vranitzky auf Klaus, Lacina auf Dienstbier.
Aber selbst wenn Österreich heute darauf bestünde, gegen alle historische Wahrheit kein Einwanderungsland zu sein, sondern eine Insel mit einem begrenzten Biotop einer autochthonen Ethnie (haha – mit einer Promenadenmischung als „Herrenrasse“), müsste es akzeptieren, dass es Einwanderung braucht, um von der Wirtschaft bis zum Sozialsystem das Land einigermaßen stabil zu halten.
Natürlich braucht es da Regeln. Aber wer verhindert eine geordnete Migrationspolitik? Wer sorgt dafür, dass zum Beispiel dringend benötigte Lehrlinge während ihres Asylverfahrens mitten in ihrer Ausbildung zum begleitenden Gejohle aus Bierzelten deportiert werden? Richtig: die „Verteidiger nationaler Interessen“.
Freizügigkeit, Asylwerber, Migranten – die Nationalisten verhindern vernünftige europäische Gemeinschaftspolitik, gemeinsame Regeln und haben national nichts anderes anzubieten als Angstmache, Beförderung von Aggressionen und Hass, Spaltung der Gesellschaft. „Aber – ich habe da noch einen Einwand!“
Sagen Sie ihn geradeheraus. Wir können alles diskutieren. Ja, wir müssen endlich alles diskutieren, alles infrage stellen, wir müssen pragmatisch träumen und realistisch fantasieren und alles überprüfen, wir müssen alles Menschenmögliche tun, um aus unserer verfahrenen Situation herauszukommen, in der wir bloß dabei zuschauen können, wie Krisen nur noch ausweglos gemanagt und die unproduktiven Widersprüche bloß irgendwie so ausbalanciert werden dass es die EU nicht sofort zerreißt