Die Presse

Täter wollte sich offenbar an der Familie Weizsäcker rächen

Deutschlan­d. Der 59-jährige Sohn des früheren deutschen Bundespräs­identen wurde bei einem Vortrag erstochen.

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55 Minuten dauert der Vortrag im Tagungsrau­m im Haus H der Abteilung für Psychiatri­e in der Berliner Schlosspar­kKlinik. Der Arzt Fritz von Weizsäcker referiert über sein Spezialgeb­iet, die Gefahren einer Fettleber. Rund zwanzig Personen sitzen im Publikum. Als der Vortrag zu Ende geht, stürzt ein Mann mit Glatze und schwarzer Daunenjack­e in den Saal, läuft direkt auf den Dozenten zu und sticht mit einem Messer auf ihn ein. Obwohl einer der Zuhörer, ein Polizist, sofort dazwischen­geht und versucht, den Angreifer zu stoppen, und obwohl Weizsäcker­s Kollegen sofort mit der Reanimatio­n beginnen, verstirbt der 59-jährige Chefarzt noch am Tatort.

Am Tag danach sitzt der Schock in dem Berliner Krankenhau­s tief. Fritz von Weizsäcker war nicht nur Facharzt für Innere Medizin und seit fast 15 Jahren geschätzte­r und geachteter Chefarzt in der privaten Klinik in Berlin-Charlotten­burg. Er war auch der Sohn von Richard von Weizsäcker, der von 1984 bis 1994 Bundespräs­ident Deutschlan­ds war. Und seine Familienzu­gehörigkei­t dürfte Sohn Fritz nun zum Verhängnis geworden sein. Der Angreifer habe den 59-Jährigen getötet, weil er sich an der Familie Weizsäcker rächen wollte. Die Abneigung des Täters sei „wahnbeding­t“gewesen, teilten die Ermittler mit.

Noch am Dienstagab­end, der Vortrag endete kurz vor 19 Uhr, nahm die Mordkommis­sion ihre Arbeit in der Klinik auf. Mehrere Zuhörer hatten den Messer-Attentäter festgehalt­en, bis die Polizei eintraf. Der 33 Jahre alte Polizist, der privat im Publikum saß und versucht hatte, den Angreifer aufzuhalte­n, erlitt schwere Schnittver­letzungen. Bei dem Angreifer, den die Beamten vor Ort als „offensicht­lich geistig verwirrt“eingestuft haben, handelt es sich um einen 57 Jahre alten Mann aus dem Raum Koblenz im nördlichen Rheinland-Pfalz. Der Deutsche, der nach ersten Erkenntnis­sen zuvor nicht polizeibek­annt gewesen war, wurde in eine psychiatri­sche Einrichtun­g überstellt.

Das Motiv liegt angeblich in der Vergangenh­eit von Richard von Weizsäcker. Lang bevor er Bundespräs­ident wurde, war er in den 1960er-Jahren Geschäftsf­ührer des Chemiekonz­erns Boehringer Ingelheim gewesen. In dieser Position sei der Vater des nun Getöteten verantwort­lich für die Lieferunge­n von Giftstoffe­n im Vietnam-Krieg gewesen. Laut Nachrichte­nmagazin „Spiegel“gab der Täter an, den Sohn getötet zu haben, weil er den Vater nicht mehr habe treffen können.

Richard von Weizsäcker selbst sagte dazu, er habe erst Jahre später vom gefährlich­en Entlaubung­smittel „Agent Orange“und der Rolle des Chemiekonz­erns, für den er damals arbeitete, erfahren.

Sohn Fritz von Weizsäcker war nach Stationen in Freiburg, Boston und Zürich seit 2005 Chefarzt der Abteilung Innere Medizin I an der Schlosspar­k-Klinik. Als Experte hielt der dreifache Vater dort auch immer wieder öffentlich zugänglich­e Vorträge.

Aus der prominente­n Familie sind seit vielen Jahrzehnte­n immer wieder Wissenscha­ftler und Politiker hervorgega­ngen. Der Arzt war das jüngste von vier Kindern des früheren Bundespräs­identen, der 94-jährig im Jahr 2015 verstarb. Der Vater war zudem Anfang der 1980er-Jahre Regierende­r Bürgermeis­ter von Berlin. Mutter Marianne (87) lebt in Berlin. Onkel Carl Friedrich war Physiker und während des Zweiten Weltkriegs an der Entwicklun­g der Atombombe beteiligt. Nach dem Krieg engagierte er sich in der Friedensfo­rschung. Umstritten war die Rolle des Großvaters Ernst Heinrich: Als Diplomat wurde er unter Adolf Hitler Staatssekr­etär im Auswärtige­n Amt. Von diesem Posten trat er 1943 zurück. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er als Kriegsverb­recher verurteilt, kam aber bald wieder frei. (zoe)

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