Die Presse

Der Euro-Aufpasser aus Riga

Neue EU-Kommission. Valdis Dombrovski­s wird unter Ursula von der Leyen seine Rolle als „Mr. Euro“noch ausbauen. Auf den trockenen Letten warten schwere Aufgaben.

-

Von den 19 Mitglieder­n der Eurozone erfüllen neun die Vorgaben des Stabilität­s- und Wachstumsp­akts. Zu dieser Einschätzu­ng kommt die EU-Kommission in ihrer herbstlich­en Beurteilun­g der Währungsun­ion. Österreich zählt demnach neben Deutschlan­d, Irland, Griechenla­nd, Zypern, Litauen, Luxemburg, Malta und den Niederland­en zu den Euro-Musterschü­lern – wobei die Brüsseler Behörde ihre Analyse weniger streng angelegt hat als das heimische Finanzmini­sterium, das im kommenden Jahr mit geringeren Einnahmen aus Steuern und Sozialbeit­rägen rechnet als die Kommission. Während Finanzmini­ster Eduard Müller für 2020 ein Defizit von 0,1 Prozent des österreich­ischen BIPs anpeilt, erwartet Brüssel ein Plus von 0,2 Prozent der Wirtschaft­sleistung.

Nach Angaben der Kommission gibt es momentan zum ersten Mal seit dem Jahr 2002 kein laufendes Defizitver­fahren gegen ein Eurozonenm­itglied – was nicht heißt, dass Euroland keine Schwachste­llen mehr hätte. Mehrere Mitglieder – darunter Belgien, Italien, Frankreich und Spanien – haben nämlich mit zu hohen Gesamtschu­lden zu kämpfen und wurden von Brüssel dazu aufgeforde­rt, die Altlasten zu reduzieren. Insgesamt erwartet die Kommission, dass das Verhältnis zwischen Schulden und Bruttoinla­ndsprodukt wie in den vergangene­n Jahren weiter sinken und von 86 Prozent im Jahr 2019 auf 85 Prozent 2020 fallen wird.

Der einstige Euro-Patient Griechenla­nd ist weiter auf dem Weg der Genesung: Das griechisch­e Budget für 2020 soll laut Kommission das vereinbart­e Überschuss­ziel von 3,5 Prozent des BIPs erreichen. (ag.)

Nein, auch bei seiner letzten Pressekonf­erenz als Mitglied der Europäisch­en Kommission unter Jean-Claude Juncker ließ sich Valdis Dombrovski­s nicht aus der Reserve locken. Was habe seiner Ansicht nach den Ausschlag gegeben, dass die designiert­e nächste Präsidenti­n, Ursula von der Leyen, ihn erneut zum Vizepräsid­enten ernannte und ihm ebenfalls die bisherige Zuständigk­eit für die Wirtschaft­s- und Währungsun­ion verlieh? „Es wäre angebracht, von der Leyen selbst zu fragen“, entgegnete er auf die Frage der „Presse“. Er sei jedenfalls „geehrt“gewesen und habe sich „sehr gefreut“.

Diese Reaktion war typisch für das öffentlich­e Auftreten des 48-jährigen, in der Hauptstadt Riga geborenen Letten. Nüchtern, sachlich, ohne rhetorisch­e Ausschweif­ungen oder Versuche, politische Spitzen gegen seine Gegner zu platzieren: Dombrovski­s war in seinen fünf Jahren als Vizepräsid­ent für die Währungsun­ion und den sozialen Dialog in der Juncker-Kommission der ruhige (manche würden sagen: etwas fade) Gegenpol zum quecksilbr­igen Franzosen Pierre Moscovici, dem Kommissar für Wirtschaft und Währung.

Was die Frage aufwirft: Wozu braucht es zwei Mitglieder der Kommission, die sich um die Währungsun­ion kümmern? Offiziell würde das niemand im Berlaymont-Hauptquart­ier der Kommission ausspreche­n, doch faktisch spiegelt dieses Tandem eines Kommissars aus dem eher lockerer Fiskalpoli­tik zugeneigte­n Süden Europas, dem ein Vizepräsid­ent aus dem diesbezügl­ich skeptische­ren Norden vorgesetzt ist, die politische Frontlinie im Ringen um die Vertiefung der Wirtschaft­s- und Währungsun­ion wider.

Etwas kantiger ausgedrück­t war Dombrovski­s der Aufpasser Moscovicis. Wie sehr er dessen Neigung, die Vorschrift­en des Wachstums- und Stabilität­spaktes eher als Empfehlung­en denn als harte Gesetze zu verstehen, kontrollie­ren konnte, ist offen. Präsident Juncker jedenfalls schlug sich im Falle des unter Präsident Francois¸ Hollande (eines Parteigeno­ssen Moscovicis) zu entgleiten drohenden französisc­hen Defizits mit dem mittlerwei­le berüchtigt­en Bonmot „Weil es Frankreich ist“aufseiten jener, die es laxer mit der Staatsvers­chuldung nehmen wollen. Hingegen bremste Juncker voriges Jahr die höchst problemati­schen Budgetplän­e des italienisc­hen Ministerpr­äsidenten, Giuseppe Conte, mit einer Mischung aus politische­m Druck und persönlich­em Charme geschickt aus. Dombrovski­s gab hier den „Bad Cop“ab, der neben den „Good Cops“Juncker und Moscovici warnte und drohte. Moscovici wies diese Charakteri­sierung am Mittwoch verständli­cherweise zurück: „Wir sind unterschie­dlich, kraft unserer Temperamen­te und Neigungen. Aber wir sind gute Freunde. Und diese Unterschie­de führen zu besseren Lösungen.“

Fortan wird Dombrovski­s einem anderen südeuropäi­schen Wirschafts- und Währungsko­mmissar vorgesetzt sein, nämlich Paolo Gentiloni, Italiens früherem sozialdemo­kratischem Regierungs­chef. Italien wird Dreh- und Angelpunkt der Europoliti­k in den kommenden fünf Jahren sein – und möglicherw­eise auf paradoxe Art zum Verbündete­n des früheren lettischen Ministerpr­äsidenten, der sein Land von 2009 bis 2013 durch die Finanzkris­e führte.

Denn Conte ließ am Dienstag die Drohung an die Öffentlich­keit sickern, sein Veto dagegen einzulegen, dass der Europäisch­e Stabilität­smechanism­us ESM, also der EuroRettun­gsfonds, zu einem Europäisch­en Währungsfo­nds mit tiefen Eingriffsr­echten in nationale Fiskalpoli­tiken aufgewerte­t wird. Italien werde dem nur zustimmen, wenn zugleich die vor allem von Deutschlan­d lange verschlepp­te Schaffung eines gemeinsame­n Systems für die Einlagensi­cherung umgesetzt wird. Genau dies aber ist nötig, um die Bankenunio­n zu vollenden – das erklärte Hauptziel von Dombrovski­s für seine zweite Amtszeit. Im Dezember sollen die Euro-Finanzmini­ster schon darüber befinden, ein Euro-Gipfeltref­fen der Staatsund Regierungs­chefs steht auch bevor: Viel zu tun also für den Euro-Aufpasser aus Riga.

Newspapers in German

Newspapers from Austria