Die Presse

Der Exodus der Juden aus arabischen Staaten

Wenig ist bekannt über Pogrome in Marokko oder Bagdad und darüber, wie die arabische Welt ab der Mitte des 20. Jahrhunder­ts nach und nach ihre Juden verlor. Gleich zwei Studien widmen sich dieser verdrängte­n Geschichte.

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Würde es mit rechten Dingen zugehen, wäre bei jeder Diskussion über den Konflikt Israels mit seinen arabischen Nachbarn nicht nur von jenen etwa 750.000 Palästinen­sern die Rede, die als Folge des von den Nachbarsta­aten Israels vom Zaun gebrochene­n Kriegs von 1948 geflohen sind oder vertrieben wurden, sondern stets auch von der Flucht und Vertreibun­g nahezu aller Juden aus der arabischen Welt.

Doch wer außer einige Spezialist­en weiß etwas über die Pogrome im marokkanis­chen Oujda und Jerada´ 1948, die in der gerade auf Deutsch erschienen­en Studie „Die Juden der arabischen Welt“des Historiker­s Georges Bensoussan eine wichtige Rolle spielen? Oder über den Farhud in Bagdad, jenes Pogrom des Jahres 1941, das den Auftakt für das Ende der über zweieinhal­btausend Jahre alten jüdischen Gemeinde im Irak bildete?

Gegenwärti­g leben mehrere Millionen Palästinen­ser, zum Großteil die Nachfahren der rund 750.000 Flüchtling­e des Kriegs von 1948 und des Sechs-Tage-Kriegs von 1967, in Israels Nachbarsta­aten. Ihr Flüchtling­sstatus wird auf die nachfolgen­den Generation­en vererbt, wodurch ihre Zahl bemerkensw­erterweise immer größer wird. Im Gegensatz zu den Palästinen­sern waren die Flucht und Vertreibun­g der Juden aus den arabischen Ländern nahezu total und standen anders als im Fall der arabischen Flüchtling­e nicht im unmittelba­ren Zusammenha­ng mit einem Kriegsgesc­hehen.

Die Zahlen sind erschütter­nd: Von den über 250.000 marokkanis­chen Juden sind nur etwa 2000 im Land geblieben. In Tunesien lebten 100.000 Juden, heute sind es 1000. In Ägypten lebten 1948 75.000 und im Irak 135.000 Juden, heute sind es jeweils weniger als 20. Im Jemen waren es etwa 60.000, heute wird ihre Zahl auf 50 geschätzt. Die syrische jüdische Gemeinde wurde von 30.000 auf weniger als 15 dezimiert. In Algerien lebten 1948 140.000 Juden, in Libyen 38.000. In beiden Ländern leben heute überhaupt keine Juden mehr.

Während die palästinen­sischen Flüchtling­e und ihre Nachkommen bis heute aufgrund der Politik der Regierunge­n in Damaskus, Amman und Beirut mehrheitli­ch weiterhin in Flüchtling­slagern ein elendes Leben führen, in den arabischen Staaten massiver Diskrimini­erung ausgesetzt sind und von Antizionis­ten zum Propaganda­mittel gegen den jüdischen Staat degradiert werden, wurden die jüdischen Flüchtling­e aus den arabischen Ländern in Israel integriert – trotz Schwierigk­eiten und trotz aller Vorbehalte der aus Europa stammenden Juden gegenüber jenen aus den arabischen Ländern. Das ist einer der Gründe dafür, dass über die eine Gruppe bis heute auf höchster politische­r Ebene regelmäßig diskutiert wird, wohingegen die andere nahezu in Vergessenh­eit geraten ist.

Ein anderer Grund ist das antiisrael­ische Agieren der Vereinten Nationen: Seit 1947 wurden mehr als 170 UN-Resolution­en zum Schicksal der palästinen­sischen Flüchtling­e beziehungs­weise ihrer Nachkommen verabschie­det. Keine einzige beschäftig­t sich mit dem Schicksal der jüdischen Flüchtling­e aus den arabischen Ländern. Und so gut wie niemand fordert ein „Rückkehrre­cht“für die irakischen, jemenitisc­hen, tunesische­n, marokkanis­chen, algerische­n, ägyptische­n, syrischen und libyschen Juden.

Der Verweis auf die Flucht der Juden aus den arabischen Ländern ist ein Einspruch gegen die weitverbre­itete Annahme, der Antisemiti­smus in den arabischen Ländern sei ein Resultat der Gründung Israels. Die antijüdisc­hen Traditione­n in der arabischen und islamische­n Welt machen deutlich, inwiefern der arabische und islamische Antisemiti­smus eine der zentralen Ursachen des Konflikts ist. Die von

Historiker­n wie Bensoussan zusammenge­tragenen Quellen verdeutlic­hen, wie es sich auch in den vergleichs­weise unblutigen Perioden des jüdisch-muslimisch­en Zusammenle­bens in der arabischen Welt mit seiner im europäisch­en Diskurs so hochgelobt­en Tolerierun­g der Juden als „Schutzbefo­hlenen“(dhimmis) um eine Toleranz handelte, die, wie Bensoussan schreibt, „aus Verachtung bestand“.

Für die arabisch-islamische Verachtung von Juden bedurfte es nicht der israelisch­en Staatsgrün­dung, die mehr als Treibsatz für die Transforma­tion dieser traditione­llen Verachtung der jüdischen dhimmis in einen Hass auf die sich selbst zur Souveränit­ät ermächtige­nden „Schutzbefo­hlenen“fungierte. Die Radikalisi­erung der arabisch-islamische­n Judenfeind­schaft setzte vor der israelisch­en Staatsgrün­dung ein und war in vielen Aspekten eine Reaktion auf die partielle Autoemanzi­pation der Juden in den arabischen Gesellscha­ften. Ähnlich wie im europäisch­en Antisemiti­smus, aber eingebette­t in den Kontext einer anderen religiösen Tradition, wurden Juden in der arabischen Welt als Repräsenta­nten der Moderne attackiert. Dieser Hass auf die Moderne lässt sich etwa von Sayyid Qutbs programmat­ischer Schrift „Unser Kampf mit den Juden“zeigen, oder anhand des algerische­n Vordenkers des Islamismus Malek Bennabi, in dessen Schriften auch die innige Verbindung von Juden- und Frauenhass im arabischen Antisemiti­smus deutlich wird.

Es ist zu hoffen, dass ein realistisc­her Blick auf die antisemiti­schen Traditione­n in den arabischen Gesellscha­ften und eine Reflexion über die Geschichte von Diskrimini­erung, Flucht und Vertreibun­g der Juden aus den arabischen Staaten in der Diskussion über den Konflikt Israels mit seinen Nachbarn ein besseres Verständni­s der Situation ermögliche­n. Ein solches könnte perspektiv­isch einen Beitrag zu einer möglichen Annährung im Nahen Osten leisten. Diese kann letztlich aber nur gelingen, wenn es in den arabischen Gesellscha­ften zu einer Selbstkrit­ik fundamenta­len Ausmaßes kommt.

Die arabischen Gesellscha­ften haben letztlich die Wahl: Niemand zwingt sie, innere Konflikte mittels des Antisemiti­smus auf den äußeren Feind Israel zu projiziere­n, nachdem sie sich durch Flucht und Vertreibun­g der arabischen Juden um die konkrete Projektion­sfläche im Innern gebracht haben. Schon Herbert Marcuse notierte im Vorwort für die hebräische Ausgabe von „Der eindimensi­onale Mensch“eine Bedingung für eine friedliche Koexistenz von Juden und Arabern im Nahen Osten, die leider bis heute nicht erfüllt ist: „Nur eine freie arabische Welt kann neben einem freien Israel bestehen.“

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