Österreichs großer Nachbar hat den Kompass verloren
Die CDU hadert mit ihrer Führung, die SPD hat gar keine. Und der Wirtschaftsboom ist zu Ende. Langsam darf man sich um Deutschland Sorgen machen.
D er Satz hat Wucht: „Der Glaube an die Regierungsleistung und auch die politische Stabilität ist geradezu erdrutschartig verfallen.“Der Befund stammt vom Allensbach-Institut und wurde in der des Alarmismus unverdächtigen „FAZ“publiziert. 2015 sahen demnach noch 81 Prozent in der politischen Stabilität Deutschlands eine besondere Stärke, nun sind es nur noch 57 Prozent. Das Vertrauen in die Regierungsleistung sackte gar von 49 auf 28 Prozent ab.
Deutsche Politik kann manchmal spröde sein, aber sie war auch immer schön berechenbar. Doch nun verschieben sich in irrem Tempo die politischen Gewichte. Die Große Koalition ist in Umfragen weit entfernt von einer Mehrheit. Und das Bundesland Thüringen, gewiss ein Sonderfall, lässt sich ohne AfD oder Linkspartei nicht mehr regieren. Wer ein solches Szenario vor einigen Jahren entworfen hätte, wäre verlacht worden.
Die Große Koalition, in der Vor-Merkel-Ära die Ausnahme, beruhigt die Deutschen nicht mehr. Sie beunruhigt sie. Beide Regierungspartner sind im Umbruch. Die führungslose SPD ergeht sich in Zweifeln an sich selbst und an der Koalition. Und in der CDU beginnt unter der glücklosen Parteichefin, Annegret Kramp-Karrenbauer (AKK), der Kampf um das Erbe Merkels, um die Kanzlerkandidatur.
Die neue Instabilität kommt zur Unzeit. Die deutsche Wirtschaft entging nur knapp der Rezession, die Außenpolitik ist abgemeldet, die Energiewende teures Stückwerk, die Infrastruktur ein Sanierungsfall, wie holprige Autobahnen, Funklöcher und eine unpünktliche Bahn bezeugen. Das ist das düstere Bild. Es zeigt, dass Europas Stabilitätsanker an Halt verliert. Aber es ist unvollständig.
Denn die Wirtschaft schwächelt zwar. Aber auf hohem Niveau. Noch gibt es Rekordbeschäftigung. Noch sprudeln die Steuereinnahmen. Die Regierung arbeitet ihren Koalitionsvertrag zügig ab, was aber von Personalquerelen überschattet wird. Und noch hält der Schutzwall gegen ganz rechts und ganz links. Es gibt noch keine Populisten an den Schalthebeln der Macht. Auch Fälle von Korruption a` la Ibiza sind nicht überliefert. Und Merkel ist, das wird gern übersehen, weiter die beliebteste Politikerin im Land. Im Spätherbst ihrer Kanzlerschaft entzieht sie sich den öffentlichen Debatten aber noch mehr als sonst.
Ihre CDU ist kurz vor dem Parteitag in Leipzig ohne Kompass. 14 Jahre Kanzlerschaft, zehn in großkoalitionärer Eintracht, haben der Partei Ecken und Kanten abgeschliffen. Wirtschaftsliberale und Konservative drängen nun auf mehr reine Lehre, mehr „CDU pur“. Verfechter von Merkels Kurs, deren Feldstärke oft unterschätzt wird, halten dagegen. Strategisch steckt die CDU im Dilemma. Die Flüchtlingskrise nutzt der AfD, die Klimakrise den Grünen. Die CDU ist hin- und hergerissen, wo der Hauptgegner steht. Eine eigene Erzählung findet sie nicht. Es fehlt auch das Personal, das die Erzählung erzählt. Ob Merkels Kronprinzessin und Parteichefin, AKK, Kanzlerin kann, wird auch intern bezweifelt. Nicht nur Friedrich Merz lauert deshalb auf seine Chance.
Noch schlimmer steht es um die SPD, die drei Chefs seit 2017 verbraucht hat. Künftig führt Vizekanzler Olaf Scholz oder der linke Norbert WalterBorjans die Partei. Die Stichwahl läuft. Hätten sie an der SPD-Basis geahnt, dass der dort unbeliebte Scholz auf Andrea Nahles folgen könnte, sie hätten die Parteichefin nicht demontiert, sondern ihr einen Vertrag auf Lebenszeit offeriert.
Walter-Borjans (67) ist nüchtern betrachtet auch kein Messias, sondern ein Politrentner aus der zweiten Reihe, der im grellen Berliner Scheinwerferlicht rasch verglühen könnte. Zuletzt ist er im TV-Duell gegen den spröden Hanseaten Scholz untergegangen. Gewinnt der Parteilinke die Wahl, steht die Koalition auf der Kippe. Walter-Borjans sieht die Regierung kritisch und rüttelt an der schwarzen Null, dem CDU-Markenkern.
Für die Regierung spricht noch die Angst vor Neuwahlen und der vermeintliche Wunsch der Kanzlerin, bis 2021 zu regieren. Es ist daher denkbar, dass man sich lustlos weiterschleppt in dieser kleinen Großen Koalition, die ja nur eine Notgeburt war. Es wäre sozusagen ein Zustand dauerhafter Instabilität.