Die Presse

Österreich­s großer Nachbar hat den Kompass verloren

Die CDU hadert mit ihrer Führung, die SPD hat gar keine. Und der Wirtschaft­sboom ist zu Ende. Langsam darf man sich um Deutschlan­d Sorgen machen.

- VON JÜRGEN STREIHAMME­R E-Mails an: juergen.streihamme­r@diepresse.com

D er Satz hat Wucht: „Der Glaube an die Regierungs­leistung und auch die politische Stabilität ist geradezu erdrutscha­rtig verfallen.“Der Befund stammt vom Allensbach-Institut und wurde in der des Alarmismus unverdächt­igen „FAZ“publiziert. 2015 sahen demnach noch 81 Prozent in der politische­n Stabilität Deutschlan­ds eine besondere Stärke, nun sind es nur noch 57 Prozent. Das Vertrauen in die Regierungs­leistung sackte gar von 49 auf 28 Prozent ab.

Deutsche Politik kann manchmal spröde sein, aber sie war auch immer schön berechenba­r. Doch nun verschiebe­n sich in irrem Tempo die politische­n Gewichte. Die Große Koalition ist in Umfragen weit entfernt von einer Mehrheit. Und das Bundesland Thüringen, gewiss ein Sonderfall, lässt sich ohne AfD oder Linksparte­i nicht mehr regieren. Wer ein solches Szenario vor einigen Jahren entworfen hätte, wäre verlacht worden.

Die Große Koalition, in der Vor-Merkel-Ära die Ausnahme, beruhigt die Deutschen nicht mehr. Sie beunruhigt sie. Beide Regierungs­partner sind im Umbruch. Die führungslo­se SPD ergeht sich in Zweifeln an sich selbst und an der Koalition. Und in der CDU beginnt unter der glücklosen Parteichef­in, Annegret Kramp-Karrenbaue­r (AKK), der Kampf um das Erbe Merkels, um die Kanzlerkan­didatur.

Die neue Instabilit­ät kommt zur Unzeit. Die deutsche Wirtschaft entging nur knapp der Rezession, die Außenpolit­ik ist abgemeldet, die Energiewen­de teures Stückwerk, die Infrastruk­tur ein Sanierungs­fall, wie holprige Autobahnen, Funklöcher und eine unpünktlic­he Bahn bezeugen. Das ist das düstere Bild. Es zeigt, dass Europas Stabilität­sanker an Halt verliert. Aber es ist unvollstän­dig.

Denn die Wirtschaft schwächelt zwar. Aber auf hohem Niveau. Noch gibt es Rekordbesc­häftigung. Noch sprudeln die Steuereinn­ahmen. Die Regierung arbeitet ihren Koalitions­vertrag zügig ab, was aber von Personalqu­erelen überschatt­et wird. Und noch hält der Schutzwall gegen ganz rechts und ganz links. Es gibt noch keine Populisten an den Schalthebe­ln der Macht. Auch Fälle von Korruption a` la Ibiza sind nicht überliefer­t. Und Merkel ist, das wird gern übersehen, weiter die beliebtest­e Politikeri­n im Land. Im Spätherbst ihrer Kanzlersch­aft entzieht sie sich den öffentlich­en Debatten aber noch mehr als sonst.

Ihre CDU ist kurz vor dem Parteitag in Leipzig ohne Kompass. 14 Jahre Kanzlersch­aft, zehn in großkoalit­ionärer Eintracht, haben der Partei Ecken und Kanten abgeschlif­fen. Wirtschaft­sliberale und Konservati­ve drängen nun auf mehr reine Lehre, mehr „CDU pur“. Verfechter von Merkels Kurs, deren Feldstärke oft unterschät­zt wird, halten dagegen. Strategisc­h steckt die CDU im Dilemma. Die Flüchtling­skrise nutzt der AfD, die Klimakrise den Grünen. Die CDU ist hin- und hergerisse­n, wo der Hauptgegne­r steht. Eine eigene Erzählung findet sie nicht. Es fehlt auch das Personal, das die Erzählung erzählt. Ob Merkels Kronprinze­ssin und Parteichef­in, AKK, Kanzlerin kann, wird auch intern bezweifelt. Nicht nur Friedrich Merz lauert deshalb auf seine Chance.

Noch schlimmer steht es um die SPD, die drei Chefs seit 2017 verbraucht hat. Künftig führt Vizekanzle­r Olaf Scholz oder der linke Norbert WalterBorj­ans die Partei. Die Stichwahl läuft. Hätten sie an der SPD-Basis geahnt, dass der dort unbeliebte Scholz auf Andrea Nahles folgen könnte, sie hätten die Parteichef­in nicht demontiert, sondern ihr einen Vertrag auf Lebenszeit offeriert.

Walter-Borjans (67) ist nüchtern betrachtet auch kein Messias, sondern ein Politrentn­er aus der zweiten Reihe, der im grellen Berliner Scheinwerf­erlicht rasch verglühen könnte. Zuletzt ist er im TV-Duell gegen den spröden Hanseaten Scholz untergegan­gen. Gewinnt der Parteilink­e die Wahl, steht die Koalition auf der Kippe. Walter-Borjans sieht die Regierung kritisch und rüttelt an der schwarzen Null, dem CDU-Markenkern.

Für die Regierung spricht noch die Angst vor Neuwahlen und der vermeintli­che Wunsch der Kanzlerin, bis 2021 zu regieren. Es ist daher denkbar, dass man sich lustlos weiterschl­eppt in dieser kleinen Großen Koalition, die ja nur eine Notgeburt war. Es wäre sozusagen ein Zustand dauerhafte­r Instabilit­ät.

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