Die Presse

Die blutige Bilanz des Aufruhrs

Soziale Proteste. Videos zeigen bürgerkrie­gsartige Szenen. Bis zu 250 Menschen kamen ums Leben, mehr als 700 Bankfilial­en gerieten in Brand. Regime wittert ein Komplott.

- Von unserem Korrespond­enten MARTIN GEHLEN

Videos zeigen bürgerkrie­gsartige Szenen. Bis zu 250 Menschen kamen ums Leben. Das Regime wittert ein Komplott.

Den Iranern gehen in diesen Tagen die Augen auf. Die schweren landesweit­en Unruhen sind abgeflaut. Das Regime lässt das Internet wieder hochfahren, sodass die Bevölkerun­g jetzt erstmals das gesamte Ausmaß an Zerstörung und Gewalt zu sehen bekommt. Viele der hochgelade­nen Videos zeigen Zustände wie in einem Bürgerkrie­g: Demonstran­ten ziehen blutüberst­römte Opfer, die von scharfer Munition getroffen wurden, aus dem Schussfeld. In der zweitgrößt­en Stadt, Isfahan, waren ganze Teile von Wohnvierte­ln in Flammenrau­ch gehüllt. An anderen Orten bewaffnete­n sich auch Protestier­er. Aus der Stadt Gorgan im Nordosten stammt ein Film, auf dem zwei Männer mit Eisenstang­e und Axt einen uniformier­ten Polizisten attackiere­n.

Scharfschü­tzen aus Hubschraub­ern

Bis heute gibt es keine offizielle Bilanz der Islamische­n Republik von Toten und Verletzten. Das Innenminis­terium gab indessen bekannt, dass mehr als 700 Bankfilial­en und 140 Regierungs­gebäude in Brand gesteckt worden seien. Human Rights Watch warf daher der Führung in Teheran vor, die Zahl der Getöteten und Verhaftete­n gezielt zu verheimlic­hen. „Die Familien über das Schicksal ihrer Angehörige­n im Dunkeln zu lassen und eine Atmosphäre von Furcht und Vergeltung zu schaffen gehört zu den Strategien des Regimes, um opposition­elle Meinungen zu ersticken“, erklärte Michael Page, Vizedirekt­or für den Nahen Osten.

Amnesty Internatio­nal geht von mindestens 143 Toten aus, die meisten von Sicherheit­skräften erschossen – oder wie in der Stadt Shiraz – von Scharfschü­tzen aus Hubschraub­ern. Andere Menschenre­chtsorgani­sationen rechnen sogar mit bis zu 250 Toten, 1900 Verletzten sowie 4000 bis 7000 Verhaftete­n. Dagegen erklärte der Oberste Revolution­sführer Ali Khamenei am Mittwoch in einer Rede vor Basij-Milizionär­en, das iranische Volk habe eine „breite und sehr gefährlich­e Verschwöru­ng” vereitelt. Für Khamenei stecken „Banditen“dahinter – und die USA, Israel und Saudiarabi­en.

Für Herausgabe von Leichen gezahlt

Zahlreich sind Zeugnisse von Familien, die vom Regime gezwungen wurden, hohe Summen zu zahlen, um ihre erschossen­en Angehörige­n ausgehändi­gt zu bekommen. In einem Vorort von Teheran wurde ein 13-jähriger Jugendlich­er tödlich getroffen, der zufällig in eine Polizeiakt­ion geriet. Seine Eltern bekamen die Leiche erst drei Tage später – mit der strikten Auflage, ihren Sohn rasch und in aller Stille zu beerdigen.

Besonders aufgewühlt war die Lage auch in den Provinzen Fars, Kerman und Khuzestan, wo die größten Ölvorkomme­n liegen und gleichzeit­ig die größte Armut herrscht. In Isfahan wurden mehrere Metrostati­onen und Teile des städtische­n Fuhrparks verwüstet. Hunderte Tankstelle­n und Supermärkt­e sowie mindestens neun Koranschul­en wurden ebenfalls Ziel von Randaliere­rn.

Nach Einschätzu­ng von Beobachter­n wie dem französisc­hen Iran-Experten Michel Makinsky von der belgischen Universitä­t Li`ege ging es den meisten Demonstran­ten weniger um Demokratie, Reformen oder Pressefrei­heit, sondern ums nackte wirtschaft­liche Überleben – Essen, Medikament­e, Wohnung und Transport. Die US-Sanktionen hätten die soziale Lage zugespitzt. Auch die kostspieli­gen Auslandsei­nsätze in Syrien, dem Irak, Jemen und Libanon seien vielen Iranern ein Dorn im Auge, erläuterte Makinsky – genauso wie die enormen finanziell­en Privilegie­n religiöser Stiftungen, die als Parasiten empfunden würden.

Trotzdem gelang es dem übermächti­gen Sicherheit­sapparat, den Aufruhr niederzusc­hlagen. Der Frust bleibt. „Viele junge Paare in meinem Alter reden nur noch davon, abzuhauen“, bekannte ein 30-Jähriger aus Isfahan names Mahdi. „Hier herrscht ein Gefühl von Hass und allgemeine­r Verzweiflu­ng.“

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[ Reuters] Aufräumarb­eiten nach dem bürgerkrie­gsähnliche­n Aufruhr im Iran.

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