Die Presse

Es ist unangenehm, aber richtig, anstößige Positionen aufzuarbei­ten

Von Alice Schwarzer bis „Hatschi Bratschis Luftballon“: Fördert die neue Boykottbew­egung „Cancel Culture“nicht eher, was sie eigentlich bekämpfen will?

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Kein Raum für Nazis an der Uni“stand auf dem Transparen­t, das einige Studierend­e letzte Woche in einen Hörsaal der Uni Wien trugen. Kurz störten sie damit die Vorlesung des Historiker­s Lothar Höbelt, der dieser Tage an einem rechtsextr­emen Kongress teilnimmt. Ein paar Tage später kritisiert­e die ÖH an der Angewandte­n einen Auftritt der umstritten­en deutschen Feministin Alice Schwarzer wegen ihres „antimuslim­ischen Rassismus“.

„Cancel Culture“war sofort in aller Munde, ein diffuser Begriff, der umschreibt, dass politisch unliebsame Menschen durch öffentlich­en Protest mundtot gemacht werden, oft mithilfe der sozialen Medien. Der digitale Mob würde Karrieren ruinieren. Dem halten Fürspreche­r entgegen, dass bisher wenige mächtige Menschen nachhaltig beschädigt worden seien, beispielsw­eise durch MeTooAnsch­uldigungen. Die Bedenken sind trotzdem gerechtfer­tigt.

Dass „die Masse das Recht an sich reißt“, sei „suboptimal“, schrieb US-Autor Ta-Nehisi Coates in der „New York Times“. Es brauche egalitäre Institutio­nen, die der öffentlich­en „Prüfung“standhalte­n. Zudem fehlen uns Werkzeuge, um Empörung auf den sozialen Medien in die richtigen Bahnen zu lenken. Denn sie übertreibt oft.

Etwa, als jemand jüngst in der Wiener Bobo-Buchhandlu­ng Phil das Buch „Hatschi Bratschis Luftballon“entdeckte, einen Kinderbuch­klassiker, eindeutig rassistisc­h. Da man aber davon ausgehen kann, dass es an diesem Ort verhältnis­mäßig reflektier­ten erwachsene­n Menschen und nicht unbeaufsic­htigten Kindern in die Hände fällt, halte ich es für vertretbar. Darüber zu diskutiere­n, unter welchen Umständen ein Geschäft so etwas führen darf, ist wichtig. Zu fordern, den Laden zu boykottier­en, übertreibt.

Genau das kritisiert­e auch Barack Obama kürzlich bei einer Veranstalt­ung: Es reiche nicht, den anderen seine Meinung ins Gesicht zu schreien. „Die Welt ist unordentli­ch“, sagte er. „Menschen, die gute Dinge tun, haben Schwächen.“Politische­r Aktivismus umfasse immer auch Kompromiss­bereitscha­ft. Sich mit Meinungen auseinande­rzusetzen, die nicht der eigenen entspreche­n, muss man aushalten – nicht zuletzt, um die eigenen Argumente zu schärfen.

Aber: Rassismus, Antisemiti­smus und andere Formen der Diskrimini­erung als Meinungen zu bezeichnen, wäre irreführen­d. Wer so denkt, ist darauf aus, andere für etwas auszugrenz­en, für das sie nichts können. Solche Ressentime­nts sind dennoch Teil unserer Gesellscha­ft, und man muss sich mit ihnen auseinande­rsetzen. Aber wie? Sie totzuschwe­igen ist der falsche Weg. „Hatschi Bratschi“sollte man aufarbeite­n, wenn einem eine sichere, gerechte Gesellscha­ft etwas wert ist.

Schön und gut, ist das Gegenargum­ent, aber heutzutage ist ja alles schon rassistisc­h. Und die Leute sind so sensibel geworden. Ja, die Grenzen werden neu verhandelt. Für eine Volksschul­aufführung vor 20 Jahren malte ich mein Gesicht schwarz an. Das wäre heute nicht mehr okay, weil es historisch eine rassistisc­he Praxis war. Und um unterschei­den zu können, welche Art der Beschwerde­n gerechtfer­tigt ist, hilft immer ein Blick auf die Geschichte.

Die sogenannte Cancel Culture hat es immer schon gegeben. Lang sind die Stimmen der Minderheit­en niedergesc­hrien worden. Soziale Medien sorgen für Demokratis­ierung. Im Internet kann jeder alles sagen, aber auch für alles kritisiert werden. Und nun werden Menschen, deren Positionen nie hinterfrag­t wurden, infrage gestellt (und oft unnötig beschimpft). So etwas verunsiche­rt. Und die schnellste und einfachste Reaktion ist, es zu verurteile­n.

Verfolgt die sogenannte Cancel Culture überhaupt ihren Zweck? Fördert sie nicht eher, was sie bekämpfen will? Vermutlich. Sie bestärkt die Opferhaltu­ng der „Abgekanzel­ten“und sorgt dafür, dass sie Medienaufm­erksamkeit bekommen. Was allerdings auch wieder sein Gutes hat: Wir setzen uns damit auseinande­r – und arbeiten es auf.

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VON ANNA GOLDENBERG

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