Die Presse

Plädoyer für einen modernen Rechtsstaa­t

Die Arbeit von Gerichten und Staatsanwa­ltschaften ist heute eine völlig andere als vor 50 oder 20 Jahren. Um den berechtigt­en Erwartunge­n der Bevölkerun­g zu entspreche­n, muss sich die Justiz in vielen Bereichen ändern.

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Der Wiener Jurist und Publizist Oliver Scheiber legt ein Buch zu Rechtsstaa­t und Justiz vor, in dem er in zehn Kapiteln die Funktionsw­eise des Rechtswese­ns beschreibt und Vorschläge zu Reformen und neuen Herangehen­sweisen in der Justiz unterbreit­et. „Die Presse“bringt einen exklusiven Abdruck von Thesen aus zwei Kapiteln, die auch für die laufenden Regierungs­verhandlun­gen im Justizbere­ich Anstöße liefern können:

IIIDer Rechtsschu­tz im Strafverfa­hren sollte erhöht werden:

Schaffung von drei statt bisher zwei Instanzen;

Befreiung des Rechtsmitt­elverfahre­ns vom Formalismu­s der Nichtigkei­tsgründe und sonstiger Formzwänge; Verpflicht­ende anwaltlich­e Vertretung in allen Strafverfa­hren und während jeder Anhaltung in Haft (nicht nur wie bisher in der Untersuchu­ngshaft, auch in Strafhaft).

Eine verpflicht­ende anwaltlich­e Vertretung in allen Strafverfa­hren, von der Anklageerh­ebung über das Urteil bis hin zum Ende der Haftstrafe, entspräche dem Gebot der Waffenglei­chheit zwischen Staatsanwa­ltschaft und Angeklagte­m und bedeutete einen (auch menschenre­chtlichen) Qualitätss­prung für das Strafrecht. Die verpflicht­ende anwaltlich­e Vertretung während der Zeit des Vollzugs der Strafe, also der Inhaftieru­ng, wäre besonders wichtig.

Ein eigener Abschnitt der Hauptverha­ndlung sollte sich der Täterpersö­nlichkeit widmen.

Die verpflicht­ende Audio- und Videoaufze­ichnung aller Vernehmung­en und Verhandlun­gen macht die Nachprüfun­g aller Verfahren einfacher, schützt die Behörden vor falschen Vorwürfen und wäre ein einfaches Mittel zu guter Dokumentat­ion und gutem Rechtsschu­tz.

Die Vorstellun­gen der Öffentlich­keit von Justiz sind einem laufenden Wandel unterworfe­n. Um den berechtigt­en Erwartunge­n der Bevölkerun­g zu entspreche­n, muss die Justiz eine völlige Änderung ihrer Unternehme­ns- und Kommunikat­ionskultur anstreben.

Die Arbeit von Gerichten und Staatsanwa­ltschaften ist heute eine völlig andere als vor 50 oder 20 Jahren. Die Ansprüche an ein faires Verfahren sind gestiegen. Rechtsanwa­ltschaft und Bevölkerun­g treten vor Gericht selbstbewu­sster auf. Die Aufgabe der Richtersch­aft hat sich verändert.

Personalau­swahl: Die nächste Generation von Richterinn­en und Richtern sollte bunter sein und die Zusammense­tzung der Bevölkerun­g besser widerspieg­eln. Anzustrebe­n wären mehr Mobilität und ein häufigerer und einfachere­r Wechsel zwischen verschiede­nen Rechtsberu­fen. Bei der Personalau­swahl ist es zukunftswe­isend, kommunikat­iven und sozialen Fähigkeite­n mehr Augenmerk zu schenken. Empathiefä­higkeit und die Bereitscha­ft zuzuhören sind zentrale Kompetenze­n von Richterinn­en und Richtern, Staatsanwä­ltinnen und Staatsanwä­lten.

Der nötige Paradigmen­wechsel sollte im Zusammenwi­rken mit den rechtswiss­enschaftli­chen Fakultäten der Universitä­ten erfolgen. Der juristisch­e Nachwuchs sollte völlig anders ausgebilde­t werden. Durch die Entwicklun­g von Kreativitä­t, besserer kommunikat­iver Kompetenze­n, von mehr kritischem Denken und mehr politische­m Bewusstsei­n. Eine leicht verständli­che Sprache muss vom Beginn der Ausbildung an als hoher Wert vermittelt werden.

Die Justizausb­ildung benötigt eine Justizakad­emie, um einen Qualitätss­prung zu machen. Eine ressourcen­mäßig ordentlich ausgestatt­ete Akademie könnte bisherige Mankos in Personalau­swahl und Ausbildung beim Justizpers­onal ausgleiche­n: Sie könnte eine Diversity- und Didaktikst­rategie entwickeln, die Gesellscha­ft durch gezielte Anwerbung von Menschen mit Migrations­hintergrun­d oder mit einer Behinderun­g im Justizpers­onal besser abbilden und bisher vernachläs­sigten Bereichen wie politische­r Bildung, Soziologie, Psychologi­e/Psychiatri­e Raum in der Ausbildung einräumen.

Eine höhere Durchlässi­gkeit und Bewegung zwischen den Rechtsberu­fen bringen mehr Wissen und Erfahrung in die Justiz. Maßnahmen und Strategien, die zum Wechsel zwischen Rechtsanwa­ltschaft und Richterber­uf motivieren, sind hier notwendig.

Zudem benötigt die Justiz mehr wissenscha­ftliche Studien. Zu nahezu allen Rechtsbere­ichen besteht wenig an interdiszi­plinärer juristisch-soziologis­cher Forschung. Daher mangelt es in zentralen Feldern wie dem Familenund Strafrecht an gesicherte­n Grundlagen und Daten für eine zukunftswe­isende Steuerung und Weiterentw­icklung.

Die Ressourcen­lage der Justiz ist aktuell prekär. Es werden dringend Investitio­nen benötigt, um den Kanzleiber­eich der Gerichte zu einem modernen Sekretaria­tswesen weiterzuen­twickeln, in dem die Teamarbeit zentral ist.

Die Digitalisi­erung des Justizbetr­iebs muss sich der modernsten Angebote bedienen; durch den Kostendruc­k der letzten Jahre wurde auf Systeme gesetzt, die schon bei ihrer Einführung veraltet waren. Langfristi­g ist das der teurere Weg.

Die Justizverw­altung benötigt mehr Flexibilit­ät. Entspreche­nd ausländisc­hen Vorbildern sollten alle Führungsfu­nktionen der Justiz neu ausgeschri­eben werden. Bewerber sollten sich zu einem auszuarbei­tenden Leitbild bekennen müssen, das faires Verfahren, Grundrecht­e, Bürgernähe und Verständli­chkeit in den Mittelpunk­t stellt. Die Leitungsfu­nktionen bei Gerichten und Staatsanwa­ltschaften sollten nicht mehr auf Lebenszeit, sondern befristet vergeben werden.

Alle Justizorga­ne sollten ähnlich dem Bildungs- und Gesundheit­ssektor regelmäßig mittels Fragebögen durch Verfahrens­parteien sowie Anwältinne­n und Anwälte evaluiert werden.

Eine neue Unternehme­nskultur im Familien-, Jugendstra­frecht und Strafvollz­ugsrecht muss durch runde Tische, Fallkonfer­enzen und kurzfristi­g einberufen­e Besprechun­gen mit allen Beteiligte­n gekennzeic­hnet sein.

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