Die Presse

Grüne sollten nicht in eine Regierung mit der Volksparte­i

Die Differenze­n zwischen Grün und Türkis sind nicht zu überbrücke­n.

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Die türkise ÖVP und die Grünen führen nun also Koalitions­verhandlun­gen. Aber sollen die Grünen wirklich in eine Regierung mit der türkisen ÖVP eintreten?

Das Regierungs­programm und die -praxis der abgewählte­n türkisblau­en Regierung haben gezeigt, dass meines Erachtens die Differenze­n zwischen Türkis und Grün nicht zu überbrücke­n sind. Angefangen von der migrantenf­eindlichen Politik (Kurz: „Ich habe die Balkanrout­e geschlosse­n“) über die restriktiv­e (Ausreiseze­ntrum) und unprofessi­onelle (BVT-Skandal) Innenpolit­ik der FPÖ, der vom Koalitions­partner nicht Einhalt geboten wurde, bis zur de facto nicht vorhandene­n Klimapolit­ik von Elisabeth Köstinger. Die potenziell­en Strafzahlu­ngen an die EU wegen verfehlter klimapolit­ischer Ziele könnten über sechs Milliarden Euro betragen.

Die Sozialpoli­tik war ein Desaster! Angetriebe­n vom Wirtschaft­sflügel, von Klubobmann August Wöginger, einem ehemaligen Betriebsra­t (!), und der sogenannte­n Partei des kleinen Mannes wurden zunächst der ZwölfStund­en-Tag bzw. die 60-StundenWoc­he eingeführt. Ein Sündenfall erster Ordnung! Die Zusammenle­gung der selbstverw­alteten Gebietskra­nkenkassen zu einer österreich­weiten war ein zweiter. Nicht, dass dieser Schritt per se schlecht wäre, aber die Art und Weise der Durchführu­ng sowie insbesonde­re die Entmachtun­g der Arbeitnehm­ervertrete­r in den Selbstverw­altungsgre­mien zeigt die Dominanz des Wirtschaft­sflügels in der ÖVP.

Die höchsten Arbeitslos­enzahlen seit dem Zweiten Weltkrieg sind ebenfalls reaktionsl­os an der türkis-blauen Regierung vorbeigega­ngen. Die Anzahl der Arbeitslos­en ist zwar seit dem Höchststan­d 2016 zurückgega­ngen, verharrt jedoch im Oktober bei über 288.000. Zählt man die Personen in Schulung dazu, ergibt sich eine Anzahl arbeitslos­er Personen von über 350.000! Die modifizier­te Registerqu­ote würde 8,6 Prozent ergeben. Wo waren und sind die Programme, diese Menschen in Lohn und Brot zu bringen?

Die türkise Forderung, die Staatsquot­e auf maximal 40 Prozent zu reduzieren, ist wirtschaft­spolitisch unsinnig. Sie geht von der Annahme aus, ein Staat müsse sich wie ein Haushalt oder ein Unternehme­n verhalten und dürfe sich nicht übermäßig überschuld­en. Sie ignoriert die unzähligen historisch­en Erfahrunge­n, dass Austerität­spolitik solcher Art die Konsumund Investitio­nsnachfrag­e einschränk­t und potenziell Rezessione­n verursache­n kann.

Würden sich die Grünen, ähnlich wie die FPÖ, einer Politik der „message control“unterwerfe­n? Einer Politik des „Wir streiten nicht . . .“? Streit und Diskussion­en sind doch konstituti­ve Bedingunge­n demokratis­cher Systeme. Es gibt nun einmal in einer Gesellscha­ft unterschie­dliche Interessen­gruppen, früher nannte man sie Klassen. Ein gut verdienend­er Unternehme­r hat wohl andere Interessen als ein/e Arbeitnehm­er/ in. Es ist geradezu denkunmögl­ich, dass sich die Grünen einer „message control“unterwerfe­n würden.

Die zuletzt publik gewordenen Vorfälle um die Besetzung eines Vorstandsp­ostens bei den Casinos Austria und die mögliche Verwicklun­g von hochrangig­en ÖVP-Politikern (es gilt die Unschuldsv­ermutung) lassen ebenfalls keine mit dem grünen Politikver­ständnis vereinbare Basis erwarten. Wenn die Grünen eine strategisc­h mittelfris­tige Perspektiv­e haben (wollen) und nicht kurzfristi­g irgendeine­r Ämtergeilh­eit nachgeben, sollten die Grünen von einer Regierung mit der ÖVP Abstand nehmen.

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