„Chinas Führer in Echokammer“
Interview. Der amerikanische China-Experte David Shambaugh über die Probleme der KPFührung mit der Peripherie der Volksrepublik und ihr Unverständnis für die Außenwelt.
Der amerikanische China-Experte David Shambaugh im „Presse“Interview.
Die Presse: Könnten Parteidokumente zur Politik der chinesischen Führung gegenüber den Moslems in Xinjiang, die westlichen Journalisten zugespielt wurden, darauf hindeuten, dass die Parteispitze in Peking doch nicht ganz so geeint ist?
David Shambaugh: Die geleakten Dokumente über Xinjiang und die dortigen Internierungslager bestätigen eigentlich nur, was wir durch Satellitenbeobachtung und von aus der Provinz geflüchteten Uiguren bereits wissen. Aber ich glaube nicht, dass sie auf irgendwelche Spaltungen innerhalb der Führung hinweisen. Ich sehe eine sehr feste, kompakte Führung. Das heißt aber nicht, dass es keine Unzufriedenheit mit Parteichef Xi Jinping innerhalb der Partei gibt, wenn auch nicht in der Parteispitze. Aber die KPCh hat 82 Millionen Mitglieder. Und es ist nicht schwer, Parteimitglieder zu finden, die sich kritisch zu Xis Politik äußern. Auch außerhalb der Partei, in der Gesellschaft, gibt es Unzufriedenheit mit dem Kurs, auf den Xi China gelenkt hat. Kann Xi Jinpings Politik der eisernen Repression in Xinjiang und auch Tibet längerfristig erfolgreich sein?
Nein. Repression ist ein Anzeichen für Unsicherheit. Alle Regime, die ihre Untertanen unterdrücken, tun das, weil sie ihrer eigenen Führungsfähigkeit und ihren eigenen Leuten misstrauen. Uiguren und Tibeter werden in der Volksrepublik zwar nicht ausgerottet, sind aber der Internierung, Gehirnwäsche, Verhören und dem Schikanieren ihrer Familien ausgesetzt. Was ist denn das Motiv hinter der harten Politik in Xinjiang und Tibet? Geht es darum, die Volksrepublik zusammenzuhalten?
Der Hintergrund ist die Furcht der Kommunisten vor der Abspaltung der Uiguren und anderer Turkvölker, die im Nordwesten des Landes leben. Die Minderheiten dort haben sich lang der Herrschaft der Han und der kommunistischen Behörden widersetzt, wie das auch die Tibeter getan haben. Aber man darf auch nicht ausblenden, dass Uiguren Terrorakte unternommen haben. Wir haben es also nicht mit einer pazifistischen Bewegung zu tun. Niemand verdient eine Freikarte für Gewalttaten. Die Uiguren sollten aber nicht der massenhaften und systematischen Überwachung, Internierung und Gehirnwäsche ausgesetzt sein wie in den vergangenen Jahren. Was sind für Xi die schwierigsten internen Probleme?
Das sind die erwähnten Probleme an der Peripherie: Xinjiang, Tibet, jetzt auch noch Hongkong sowie Taiwan, das einen Sonderfall darstellt. Die ethnische Frage war für die Kommunisten immer ein Reizthema, das Potenzial für Separatismus bildet dabei eine besondere Herausforderung. Dazu kommen soziale Unruhen. Es gab landesweit jährlich 180.000 Vorfälle sozialer Massenproteste, also mit 100 Beteiligten oder mehr. Die Zahl kam vom Ministerium für öffentliche Sicherheit, das in den vergangenen Jahren allerdings aufgehört hat, solche Statistiken zu veröffentlichen. Die chinesische Gesellschaft ist also sehr instabil. Sehen Sie die Gefahr, dass soziale Unruhen einmal in eine offene Rebellion gegen die kommunistische Herrschaft umschlagen könnten?
Nein. Chinas Sicherheitskräfte sind so stark, dass sie Massenunruhen gegen die Parteiherrschaft leicht zerquetschen könnten. Ich glaube auch, dass Chinas Bürger da nicht mitmachen würden, die sind mit ihren jetzigen Lebensumständen recht zufrieden. Schauen Sie sich nur an, wie die Chinesen am Festland auf die Ereignisse in Hongkong blicken. Sie haben null Sympathie für die dortigen Demokratieaktivisten. Unter Xi Jinping nahm die Herrschaft immer diktatorischere Züge an. Wo wird das hinführen?
Es führt zu immer mehr Frustration in der Gesellschaft und zeigt die Unsicherheit des KP-Regimes an. Dieses Regime sieht die gegenwärtige Realität durch das Prisma der früheren Sowjetunion. Seit dem Kollaps der Sowjetunion fürchten die chinesischen Kommunisten, dass ihnen das auch widerfahren könnte, wenn sie nicht diverse vorbeugende Maßnahmen treffen. Die kommunistische Führung hat das Gefühl, dass sie auf einem Vulkan sitzt, der ausbrechen wird, wenn sie nicht zu extremen Kontrollmaßnahmen greift. Sie fürchtet nicht nur Opposition gegen die Partei, sie ist auch sehr unsicher wegen der Disziplinlosigkeit innerhalb der KP, wegen der weitverbreiteten Korruption unter Funktionären. Korruption war wie ein metastasierender Krebs, Xi hat deshalb strikte Maßnahmen eingeleitet. Er sah auch, dass das Militär mehr Zeit mit Geschäftemachen als mit Training verbrachte, darum wurde die Disziplin in den Reihen des Militärs wieder gestärkt. Kein Sektor der chinesischen Gesellschaft wird heute von drakonischer Kontrolle verschont. Wie groß ist die Herausforderung, die Hongkong für Xi Jinping darstellt? Könnte das ganze Geschehen in einem Tian’anmen-Szenario enden, einer brutalen Ausschaltung der Demokratie-Bewegung?
Das glaube ich nicht. Was wir vergangene Woche gesehen haben, kommt vielleicht am nächsten an ein Tian’anmen-Szenario heran: die Räumung des Campus der Polytechnischen Universität durch die Polizei und über 1000 Verhaftungen. Aber es gab kein Blutbad. Die jüngsten Bezirkswahlen, in denen die Kandidaten Festlandchinas richtig Prügel einstecken mussten, weisen auf die tiefe Unzufriedenheit mit der Regierung von Carrie Lam und eine breite Unterstützung für die Anliegen der Demonstranten hin, wenn auch nicht für deren gewalttätige Taktik. Der Übergang von friedlichen Demonstrationen in Gewaltausbrüche war wirklich bedauerlich und unterminiert die probaten Forderungen der Bevölkerung Hongkongs, die fünf Hauptforderungen eingeschlossen. Aber das Hauptproblem in Hongkong ist die Missachtung der Ein-Land-zwei-Systeme-Vereinbarungen von 1997 durch die Führung in Peking. Wird die Hongkonger Regierung aber auf Forderungen der Demonstranten noch eingehen?
Kaum, und das ist schade. Denn das bedeutet, dass die Unzufriedenheit schwären wird und wir eine weiter metastasierende Situation haben werden. Hongkong kann wie Belfast in den 1970erund 1980er-Jahren werden, befürchten manche. Es könnte zu zufälligen und verstärkten Formen von Gewaltanwendung kommen, Bomben statt Molotow-Cocktails. Ich hoffe nicht, dass die Entwicklung in diese Richtung geht. Die chinesische KP hatte ihre Chance, um die Lage in Hongkong im Vorfeld zu entschärfen. Sie hat es nicht getan, und jetzt ist sie mit den Konsequenzen konfrontiert. Warum hat sie es nicht getan?
Für die chinesische KP ist Politik leider ein Nullsummenspiel. Sie versteht das Konzept der Machtteilung nicht, das Schließen von Kompromissen mit einer anderen Partei oder mit Teilen der Gesellschaft. Chinas KP unter Xi hat eine verzerrte Nullsummensicht des politischen Lebens, ob auf dem Festland oder in Hongkong. Sie haben starke Zweifel darüber geäußert, ob die chinesischen Führer je verstanden haben, wie sehr sich der Zeitgeist in den USA gedreht hat und wie
groß das Unbehagen der amerikanischen Gesellschaft China gegenüber ist. Was haben die Chinesen da übersehen?
Tatsächlich liegt da ein enormes Versagen der chinesischen Geheimdienste, Diplomatie und der akademischen USA-Experten vor. Sie haben die fundamentale Veränderung im amerikanischen Denken über China einfach nicht mitbekommen. Es gibt kein Einzelereignis, das diesen Wandel im US-Denken verursacht hat, dies hat sich vielmehr in den vergangenen sechs bis acht Jahren ergeben. Ein US-Wahlkreis nach dem anderen verlor die Illusionen über China, genauso wie die amerikanische Geschäftswelt, das Militär, die Nichtregierungsorganisationen, die Akademiker, die Medien, die Religionsgemeinschaften und die Werktätigen, deren Arbeitsplätze nach China abwanderten. Die Chinesen haben das alles einfach nicht registriert. Aber Peking schickt doch seine Studierenden an Universitäten in der ganzen Welt, hat überall seine Diplomaten und Geheimdienstler sitzen. Die müssen doch mitkriegen, wie andere Länder ticken?
Offenbar nicht. Die verstehen einfach nicht oder wollen nicht verstehen, wie ausländische Gesellschaften operieren und funktionieren. Die chinesische Führung lebt in einer Echokammer. Die Machthaber in Peking hören und glauben ihre eigene Propaganda. Sie haben kein gutes Einfühlungsvermögen in andere Gesellschaften, wie man zuletzt auch in Hongkong gesehen hat. Wie sehen Sie denn die ChinaPolitik Donald Trumps?
Trumps China-Politik ist sorgfältig durchdacht. Es ist nicht nur Trumps Politik, seine Regierung hat einen vielfältigen, härteren Kurs gegenüber China in vielen
Bereichen eingeschlagen. Trump selbst geht es nur um das Handelsdefizit. Die härtere Haltung der USA war dabei überfällig, und sie ist angemessen. Obwohl ich kein Anhänger Trumps bin, unterstütze ich seine China-Politik. Ich glaube, die meisten Amerikaner tun das, auch viele Demokraten. Und wenn Hillary Clinton im Weißen Haus säße, hätten sie dieselbe Verhärtung der US-Politik gesehen. Auch wenn Trump das Amt 2021 oder 2025 verlassen haben wird, wird man Kontinuität in der China-Politik sehen. Das werden andere Staaten, auch in Europa, erkennen. Und die Frage ist, ob sie sich diesem härteren Kurs der USA anpassen und welche Position sie in diesem verschärften Wettbewerb zwischen den USA und China beziehen werden. Sie werden entscheiden müssen, welchem dieser beiden großen Elefanten sie sich näher fühlen.