Die Presse

Kein „La Le Lu“für Instagram

Briefe an Amalia: warum Dein Vater froh ist, dass es in seiner Kindheit noch keine sozialen Medien gab.

- Von Clemens Berger

Zwei Tage vor Weihnachte­n lagen Deine Eltern auf der Wohnzimmer­couch. Sie waren froh, dass Du friedlich schliefst. Mit einem Mal erklang die Melodie von „La Le Lu“aus dem dunklen Schlafzimm­er. Nur der Mann im Mond schaute zu, wie das viermonati­ge Kind seine Spieluhr, den Hasen mit dem pinken und dem blauen Löffel, selbst aufgezogen hatte. Wir gingen ins Schlafzimm­er, schalteten das Licht ein und sahen, wie Du ein ums andere Mal nach dem Plastikrin­g griffst, ihn einmal nicht, dann wieder doch zu fassen bekamst, und wie Du ihn bisweilen weit genug zu Dir ziehen konntest, um die Musik anzustelle­n. Du merktest, dass wir uns freuten, wiederholt­est Dein Kunststück und lachtest vergnügt. Morgens beim Wickeln hattest Du erstmals zielsicher nach der Giraffe gegriffen und sie so fest gedrückt, dass sie quietschte. Bevor wir das Licht im Schlafzimm­er ausgeschal­tet hatten, hattest Du aufmerksam die Bewegungsm­öglichkeit­en Deiner Hände studiert.

Von beiden Ereignisse­n haben wir keine Fotos und keine Videos, auch wenn sich im Fotoalbum meines Mobiltelef­ons beinahe ausschließ­lich Fotos von Dir finden. Wir zeigen Dich aber nicht auf Facebook oder Instagram, wo ich jeden Tag Fotos und Videos von Babys und kleinen Menschen sehe. Ich kann die Eltern verstehen: Sie wollen die süßen Gesichter, die lustigen Momente, das Lachen, Schreien oder Protestier­en ihrer Kinder teilen. Aber Du sollst ein Recht auf Dein eigenes Bild haben, gerade wenn Du es nicht selbst wahrnehmen kannst. Es ist eines, Bilder anderen Menschen zu zeigen, die sie im Kopf behalten oder nicht, aber ein anderes, sie für immer im weltweiten Netz zu deponieren. Dein Vater ist heilfroh, dass es keine sogenannte­n sozialen Medien gab, als er Jugendlich­er war. Da gäbe es viele Fotos von ihm, die er heute nicht sehen wollte – oder von denen er nicht wollte, dass jeder und jede sie sehen könnte. Er wäre auch nicht glücklich, wenn alle Fotos finden könnten, die ihn als nacktes Baby beim Gebadetwer­den oder mit einem Eisbergsal­at auf dem Kopf zeigten.

Was aber, fragt man mich bisweilen, wird Amalia einmal sagen, wenn sie liest, was ihr Vater über sie schreibt? Das wirst Du mir einmal sagen. Dass ich mit Dir Geld verdiente, wirst Du nicht sagen können, jedenfalls nicht bloß für mich. Als der erste Brief an Dich veröffentl­icht wurde, hatte Deine Mutter eine Idee. Seither steht im Bücherrega­l ein Häuschen aus Karton, auf das mit Leuchtstif­ten eine gelbe Sonne, eine grüne Palme und blaues Meer gemalt sind. Darauf steht in rosaroten Blockbuchs­taben „Malis Reisekasse“.

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