Kein „La Le Lu“für Instagram
Briefe an Amalia: warum Dein Vater froh ist, dass es in seiner Kindheit noch keine sozialen Medien gab.
Zwei Tage vor Weihnachten lagen Deine Eltern auf der Wohnzimmercouch. Sie waren froh, dass Du friedlich schliefst. Mit einem Mal erklang die Melodie von „La Le Lu“aus dem dunklen Schlafzimmer. Nur der Mann im Mond schaute zu, wie das viermonatige Kind seine Spieluhr, den Hasen mit dem pinken und dem blauen Löffel, selbst aufgezogen hatte. Wir gingen ins Schlafzimmer, schalteten das Licht ein und sahen, wie Du ein ums andere Mal nach dem Plastikring griffst, ihn einmal nicht, dann wieder doch zu fassen bekamst, und wie Du ihn bisweilen weit genug zu Dir ziehen konntest, um die Musik anzustellen. Du merktest, dass wir uns freuten, wiederholtest Dein Kunststück und lachtest vergnügt. Morgens beim Wickeln hattest Du erstmals zielsicher nach der Giraffe gegriffen und sie so fest gedrückt, dass sie quietschte. Bevor wir das Licht im Schlafzimmer ausgeschaltet hatten, hattest Du aufmerksam die Bewegungsmöglichkeiten Deiner Hände studiert.
Von beiden Ereignissen haben wir keine Fotos und keine Videos, auch wenn sich im Fotoalbum meines Mobiltelefons beinahe ausschließlich Fotos von Dir finden. Wir zeigen Dich aber nicht auf Facebook oder Instagram, wo ich jeden Tag Fotos und Videos von Babys und kleinen Menschen sehe. Ich kann die Eltern verstehen: Sie wollen die süßen Gesichter, die lustigen Momente, das Lachen, Schreien oder Protestieren ihrer Kinder teilen. Aber Du sollst ein Recht auf Dein eigenes Bild haben, gerade wenn Du es nicht selbst wahrnehmen kannst. Es ist eines, Bilder anderen Menschen zu zeigen, die sie im Kopf behalten oder nicht, aber ein anderes, sie für immer im weltweiten Netz zu deponieren. Dein Vater ist heilfroh, dass es keine sogenannten sozialen Medien gab, als er Jugendlicher war. Da gäbe es viele Fotos von ihm, die er heute nicht sehen wollte – oder von denen er nicht wollte, dass jeder und jede sie sehen könnte. Er wäre auch nicht glücklich, wenn alle Fotos finden könnten, die ihn als nacktes Baby beim Gebadetwerden oder mit einem Eisbergsalat auf dem Kopf zeigten.
Was aber, fragt man mich bisweilen, wird Amalia einmal sagen, wenn sie liest, was ihr Vater über sie schreibt? Das wirst Du mir einmal sagen. Dass ich mit Dir Geld verdiente, wirst Du nicht sagen können, jedenfalls nicht bloß für mich. Als der erste Brief an Dich veröffentlicht wurde, hatte Deine Mutter eine Idee. Seither steht im Bücherregal ein Häuschen aus Karton, auf das mit Leuchtstiften eine gelbe Sonne, eine grüne Palme und blaues Meer gemalt sind. Darauf steht in rosaroten Blockbuchstaben „Malis Reisekasse“.