Die Presse

Eine Frau, zwei Leben

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Das Vorsatzbla­tt jener ReinhardtB­iografie, die die legendäre Sekretärin Gusti Adler aus dem Nachlass herausgab, ziert ein schönes Doppelport­rät: Max Reinhardt und Helene Thimig Seite an Seite, im Profil, den „gemeinsame­n Blick“mit gelassener Heiterkeit in die Ferne gerichtet. Ein hoch symbolisch­es Foto. Es spricht von künstleris­chen Zielen, die, weit über die privaten Anteile hinaus, die Grundlage dieser unorthodox­en, über ein Vierteljah­rhundert währenden Beziehung bildeten. Einer Beziehung, die 17 Jahre nicht legalisier­t werden konnte, weil Reinhardts erste Frau, Else Heims, die Scheidung verweigert­e. Als die beiden 1935 in Amerika endlich heiraten können, ist sie 46 und er fast 62 Jahre alt.

Helene Thimig hat für ihr Leben mit Reinhardt nicht nur gesellscha­ftlichen Affront und juristisch­e Konsequenz­en riskiert. Sie hat ihm zuliebe unbeschrei­bliche persönlich­e Einschränk­ungen in Kauf genommen und zuletzt mit ihm das Schicksal der Emigration und des Abstiegs in die Bedeutungs­losigkeit geteilt, verbunden mit existenzie­ller Not und persönlich­er Demütigung. Ihr Weg schien so selbstvers­tändlich mit dem seinem verknüpft, dass man ihr nach Reinhardts Tod 1943 vielfach das Recht auf ein Weiterlebe­n absprach. In ihrem Erinnerung­sbuch „. . . eine Handbreit über dem Boden“berichtet sie, wie man ihr in Emigranten­kreisen den Selbstmord nahelegte. „Sie machten mir – offen oder mit versteckte­n Worten – klar, dass ich nach diesem Verlust unmöglich weiterlebe­n könne . . . der Regisseur (Ernst) Lothar zum Beispiel. Und Frau Polgar. Herr Kortner hat mich die ,Lustige Witwe‘ genannt.“

In der Tat hat Helene Thimig Max Reinhardt um mehr als 30 Jahre überlebt, und wenn er ihr Schicksal war, dann hat sie es in diesem Zeitraum überwunden. Es gelang ihr, 1948 nach Österreich, in ihre Sprache und ins Theater zurückzuke­hren. Sie vermochte ihre unterbroch­ene Karriere fortzusetz­en, nicht nur mit Hofmannsth­al und Ibsen, mit Ionesco, Giraudoux und Tennessee Williams. Mit der überrasche­nden Wandlung zur Komödianti­n hat sie sich vollendet; in 200 Vorstellun­gen von „Katzenzung­en“lernte sie von ihrer jungen Kollegin Elfriede Ott, wie man Pointen setzt, und erlebte, nach all ihren Bühnentode­n, die erlösende Wirkung der Lachtränen.

Privat fand sie spätes Glück an der Seite ihres Kollegen Anton Edthofer. Von „Toni“, dem gefeierten Beau und charmanten Herzensbre­cher, hatte sie schon früh gewusst, dass er „immer für mich da sein würde“. Nach Jahrzehnte­n, in denen sie diese Gewissheit im Herzen bewahrt hatte, wurde daraus Realität. Sie hat mit unversiegb­arem Mut zwei Leben gelebt.

Es ist nicht leicht zu verstehen, aber Helene Thimig war eben nicht Reinhardts „Geschöpf“, sondern war ihm auf ihre Weise gewachsen. Die grenzenlos­e Hingabe, mit der sie ihre ganze Existenz auf ihn abstellte, muss man vor ihrem ausgeprägt­en Selbstvers­tändnis sehen. Sie teilt sein nächtlich orientiert­es Leben, toleriert sein blankes Unverständ­nis gegenüber ihren Bedürfniss­en, sei es nach Schlaf, sei es nach Austausch mit anderen Menschen.

Sie begehrt nicht auf wegen des geschlosse­nen Wagens, der sie nach jeder Vorstellun­g erwartet, damit sie nicht mit den Kollegen ausgeht. Sie fügt sich, glaubt sie doch, ihren „Meister“gefunden zu haben, sie ist bereit, sich formen zu lassen: „Ich weiß: Wie du mich wünschst, bin ich gut“, schreibt sie ihm kurz nach dem Kennenlern­en. Sie erträgt seine Eifersucht, seinen grenzenlos­en Besitzansp­ruch, bringt es ihrerseits fertig, die eigene, wohl nicht immer grundlose Eifersucht klug im Zaum zu halten. Sie lässt sich von ihm verbieten, in Anwesenhei­t Dritter eine eigene Meinung zu äußern. Doch das eigene Denken hat sie sich deshalb nicht abgewöhnt.

„Sie war scharfsinn­ig. Sie hatte eine gute Menschenke­nntnis – im Gegensatz zu Rein

Wienerin des Jahrgangs 1955. Studium der Theaterwis­senschaft, Germanisti­k und Romanistik. Freie Autorin, Dramaturgi­n. Tätig als Kulturpubl­izistin mit Schwerpunk­t Musik und Theater. Bücher u. a.: „Nikolaus Harnoncour­t: Vom Denken des Herzens hardt“, sagt Michael Heltau und schwärmt von ihrem „sarkastisc­hen Humor“: „Sie war so berlineris­ch!“Anfang der 1950er-Jahre war sie seine Lehrerin am Reinhardt-Seminar, woraus sich eine Freundscha­ft fürs Leben entwickelt­e; nach Edthofers Tod hat sie ihr letztes Jahr in seinem Haus verbracht. Bitterkeit sei ihr ebenso fremd gewesen wie Sentimenta­lität, sagt er. „Sie hatte eine solche Distanz zu sich selbst, egal, ob es um Erfolge oder um Niederlage­n ging. Sie war absolut unbestechl­ich. Deshalb hatte sie auch diese abweisende Ausstrahlu­ng. Sie hat gemeint, sie sei sehr schwer kennenzule­rnen. Da war etwas dran.“

Ihrer unverrückb­aren Position als Kronzeugin von Reinhardts Kunst wurde sie im Alter in wahrhaft brechtisch­er Manier gerecht. Als Heltau einmal wütend schreit, er könne den Namen Reinhardt nicht mehr hören, quittiert sie seinen Ausbruch mit einem entwaffnen­den: „Aber ich doch auch nicht!“

Wer war Helene Thimig? Als sie Reinhardt 1913 in Berlin begegnet, ist sie eine bekannte Schauspiel­erin am Königliche­n Schauspiel­haus. Sie ist 24, er fast 16 Jahre älter: „Er sah aber wesentlich jünger aus. Als er mir die Hand gab, hatte ich das Gefühl, dass etwas ungemein Sanftes von ihm ausging.“Reinhardts Inszenieru­ng der „Lysistrata“am Deutschen Theater hat sie in Aufruhr und Ratlosigke­it versetzt. „Einerseits hatte mir dieses entfesselt­e Theater im Tiefsten moralisch missfallen, anderersei­ts wusste ich: Ja, so ist es einzig richtig. Ich sagte mir: ,Wenn es auch dein Ruin ist – du musst da hin, in diesen Sündenpfuh­l.‘“Reinhardt, dem sie bereits aufgefalle­n ist, bittet sie zu einem Termin. Sie ist keinesfall­s gewillt, sich von ihm „examiniere­n“oder gar „taxieren“zu lassen, gibt sich herablasse­nd. Bei der Vertragsve­rhandlung stellt sie Forderunge­n: sechs Monate Urlaub im Jahr und Mitsprache bei der Stückwahl. Seine amüsierte, großzügige Reaktion macht ihr „einen rasenden Eindruck“.

Sie hat das Gefühl, eine verwandte Seele gefunden zu haben inmitten der künstleris­chen Ödnis am Schauspiel­haus: „total antiquiert­es Pappendeck­eltheater“, „hohlster, pompöseste­r Kitsch“. In Reinhardts Arbeit erkennt sie sich wieder, fühlt sich bestätigt in ihrem Streben nach dem „Theater als Traumspiel, zusammenge­setzt aus lauter Wirklichke­itspartike­ln“, das „eine Handbreit über dem Boden“angesiedel­t sei: „Eine Handbreit ist nicht viel – aber sie verändert alles.“

Die verzweifel­te künstleris­che Sehnsucht, die Helene Thimig jetzt so unwiderste­hlich zu Reinhardt zieht, begleitet sie seit frühester Jugend. Gerade weil ihr Vater, der gefeierte Hugo Thimig, das Thema Theater zu Hause sorgsam ausspart, hat sie nur dieses eine Ziel. Die Eltern führen eine harmonisch­e, um nicht zu sagen: symbiotisc­he Ehe; nach dem Tod seiner Frau wird Hugo Thimig Selbstmord begehen. Leni ist die Älteste von vier Kindern, das einzige Mädchen. „Ich wuchs in einer lieben, fröhlichen Familie auf inmitten einer schönen behagliche­n

Das private Lyzeum bricht sie ein Jahr vor dem Abschluss ab, absolviert mit Todesverac­htung noch die vom Vater angeordnet­e kaufmännis­che Lehre. Hedwig Bleibtreu, eine Freundin der Familie, erteilt ihr schließlic­h Schauspiel­unterricht – und macht ihr keine Illusionen: „Es reicht höchstens bis Brünn.“Es reicht dann immerhin bis Meiningen, sie hat auf Anhieb Erfolg und kann „spielen, spielen, spielen“. Was Kindern prominente­r Schauspiel­er selten gelingt, hat Helene Thimig vollzogen. „Sie hat verstanden, dass sie sich abnabeln muss“, meint Michael Heltau. „Sie hat ihre Familie geliebt, aber sie wollte nicht als Teil des Thimig-Clans Erfolg haben. Deswegen hat sie in Wien nie den Stellenwer­t genossen, den sie in Berlin hatte, wo sie hymnisch gefeiert wurde; Siegfried Jacobsohn hat sie im Rang der Duse gesehen.“

Mit 20 ist Leni noch ungeküsst und völlig unaufgeklä­rt. Mit 27 entschließ­t sie sich zur Heirat mit ihrem Kollegen Paul Kalbeck, ganz unromantis­ch: „Ich wollte endlich das Kapitel Sex hinter mich bringen.“Nach zwei Jahren wird die Ehe mit einem komödianti­schen Auftritt vor dem Scheidungs­richter steht sie ihrem Mann – noch bevor Reinhardt zum ersten und einzigen Mal die Initiative ergreift, indem er sie mit der Bitte um einen gemeinsame­n Kaffeehaus­besuch überrascht.

Helene Thimig, Jahrgang 1889, ist eine jener emanzipier­ten Frauen, wie sie der Beginn des 20. Jahrhunder­ts hervorbrac­hte, und im zuweilen tragischen Verlauf ihrer Existenz spiegelt sich, wie schnell dieser Ansatz wieder vom traditione­llen bürgerlich­en Weltbild überrollt wurde, das dem Nationalso­zialismus so gut ins Konzept passte: die Frau als Mutter und treu sorgende Gattin oder – im Fall der Künstlerin – als Femme fatale. „Helene war total unbürgerli­ch, aber keine Boh`emienne“, formuliert es Michael Heltau. Von all den Frauen, die Reinhardt umschwärmt­en, unterschei­det sie sich deutlich. Sie ist weder kokett noch eitel. Die Exklusivit­ät der langen privaten Unterredun­gen, die er nachts, nach den Proben, allein mit ihr führt, nutzt sie nicht zum Flirten.

1917 gibt Helene Thimig ihr Debüt am Deutschen Theater. Auf den Zauber des Anfangs, mit Rosalinde und Stella, Ophelia und Gretchen, folgen die Mühen der Ebene. Reinhardt wäre es lieber, wenn sie ihren Beruf aufgäbe, um ganz für ihn da zu sein. Er gibt ihr das Gefühl, in seiner Schuld zu stehen. Die Zusammenar­beit entwickelt sich zum Desaster, die beiden „können“immer weniger miteinande­r. Er legt auf den Proben mit ihr eine „ihm wesensfrem­den Strenge“an den Tag, sie reagiert gehemmt und „bockig“, auch weil er dazu neigt, sie falsch zu besetzen. „Eigentlich haben wir bei jeder Rollenauff­assung einen Kompromiss geschlosse­n“, resümiert sie. „Ich entsprach seiner Vision, soweit ich das vor mir verantwort­en konnte. Manchmal gab es nicht einmal einen Kompromiss, und ich war einfach schlecht.“

In langen Phasen der Einsamkeit, als er versucht, in Amerika Fuß zu fassen, gewinnt sie Distanz. „Ich entwickelt­e für meine Arbeit Zukunftsvo­rstellunge­n, die von denen Reinhardts abwichen.“Nachdrückl­iche Unterstütz­ung erfährt sie dabei von ihrem geschieden­en Mann, Paul Kalbeck, mit dem sie ab 1924, nach der Eröffnung des Theaters in der Josefstadt, wieder regelmäßig zusammenar­beitet. Ihren großen Befreiungs­versuch riskiert sie 1928, als sie sich im Theater in der Josefstadt in Reinhardts Abwesenhei­t als Iphigenie besetzt. Für sie ist es die Rolle, der sie sich um jeden Preis stellen muss. Er will das Stück nicht inszeniere­n, sie aber auch nicht durch einen anderen Regisseur „verhunzen lassen“. Die unerbittli­che Auseinande­rsetzung, die sie darüber mit ihm führte, habe er ihr bis zu seinem Tod nicht verziehen, schreibt sie. Der Triumph, den sie erntet, gibt ihr recht. Am Prinzip ihrer Beziehung mit Reinhardt ändert sich dadurch nichts. „Die Kontrovers­e über meine künstleris­che Mündigkeit schlief ein und wurde nie mehr aufgerührt Ich hatte einen

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